Die Herrin des Labyrints
stehen?«
Das war ein ziemlich ungerechter Vorwurf, und ich schwieg dazu. Ulli griff zur Zeitung und versank dahinter.
Ich hatte ihm eigentlich über die neuesten Entwicklungen meiner Suche berichten wollen, aber die Geste ermutigte mich nicht gerade. Darum zog ich mich in mein Arbeitszimmer zurück, um mich den Unterlagen zu widmen.
Die drei Briefe waren kurz, aber zärtlich. Geschrieben von einem Mann, der verliebt war, aber nicht zu schwülstigen Worten neigte. Er muss noch jung gewesen sein, voller Ehrgeiz und bezaubert von dem fremden Land und der lebenslustigen Josiane. Aus den Zeilen ging hervor, dass er für ein großes Handelshausarbeitete und immer wieder ausgedehnte Reisen unternehmen musste. Die Schreiben waren aus den unterschiedlichsten Ländern abgesandt worden und umfassten eine Zeitperiode von einem halben Jahr. Sie endeten weit vor meiner Geburt, aber das musste nicht besagen, dass Josiane nicht noch spätere Briefe bekommen hatte. Henry Vanderhorst – an was erinnerte mich der Name? Ich hatte ihn schon einmal gehört, und nach einigem Nachdenken fiel es mir wieder ein. Das war der Mann, der Gita von Josianes Tod berichtet hatte. Heinrich Vanderhorst! Ich suchte sein Schreiben aus der anderen Mappe heraus. Es war sehr kurz gehalten, eigentlich mehr eine Bitte um eine Unterredung. Die Geschehnisse hatte er wohl dann mündlich berichtet. Nun, das war auf jeden Fall ein lohnender Gesprächspartner und Zeitzeuge, der mir mehr über meine Mutter berichten konnte. Ein bisschen wunderte es mich, dass Damon sich darum bemühte, diesen Henry Vanderhorst aufzutreiben. Er konnte ihm doch herzlich gleichgültig sein, und meine Angelegenheiten gingen ihn auch nichts mehr an. Vermutlich steckte Halima dahinter. Ein Stich von Eifersucht, den ich vorhin bei Ullis Schwärmerei für Isabell nicht verspürt hatte, durchfuhr mich. Halima war eine ausgesprochen schöne und sinnliche Frau. Ihr traute ich ohne weiteres zu, den Eisbrocken Damon aufzutauen. Energisch versuchte ich, das Bild abzuschütteln, das mir die beiden in leidenschaftlicher Umarmung zeigte. Aber es nistete sich beharrlich in meinen Gedanken ein, und als ich die Augen schloss, sah ich Halimas Schlafzimmer so deutlich vor Augen, als würde ich in der Tür stehen. Ich erlebte mit, wie ihre lange Haare über Damons nackten Körper glitten, wie sie mit ihren langen Fingernägeln die roten Kratzwunden nachfuhr, die ich seiner Brust und seinem Rücken zugefügt hatte, und wie er dabei voll Schmerz und Lust aufstöhnte. Die Vorstellung wollte nicht weichen, und ich merkte, wie sich meine Hände über meinem Magen in den Pullover krallten. »Hexe!«, schrie es in mir. »Halima, du Hexe! Du wolltest, dass ich das so sehe!«
Erst nach beinahe zehn Minuten ließ die Vision nach, und ich entspannte mich etwas. War es möglich, dass Halima mir solcheBilder schicken konnte? Oder war es meine übertriebene Einbildungsgabe, die sie heraufbeschworen? Um mich von derartigen Erscheinungen abzulenken, holte ich mir aus der Küche etwas zu trinken. Ulli war in ein Fußballspiel im Fernsehen vertieft und bemerkte mich nicht einmal, als ich hinter ihm vorbeiging.
In dem Paket war, säuberlich in weißes Seidenpapier gefaltet und in Plastikfolie verpackt, mein rotes Kostüm. Einer ersten Anwandlung zufolge wolle ich es sofort in den Müll werfen, aber dann siegte die Sparsamkeit, zu der ich mein Leben lang erzogen worden war. Ich würde es bei der nächsten Gelegenheit verkaufen. Es steckte aber noch ein weiterer Umschlag neben dem Kleid, und als ich ihn aufriss, fielen mir eine Handvoll Fotos entgegen.
Es waren ganz ausgezeichnete Bilder, offensichtlich von jemandem gemacht, der sich darauf verstand, Objekte in Bewegung festzuhalten. Das besagte Objekt hatte sich sehr schnell bewegt und trug ein rotes, glitzerndes Kleid. Eine Frau in Funken und Flammen! Obwohl ich mir geschworen hatte, mich von all diesen Dingen so weit wie möglich zu distanzieren, konnte ich nicht umhin, darüber zu staunen, welchen Eindruck ich dort hinterlassen hatte. Die langweilige Amanda war verwandelt, das da war ein sprühendes Geschöpf, das mit seinen Augen neckte, mit seinen Hüften lockte, mit den Fingerspitzen küsste, mit den Schultern Versprechungen machte und keine einzige davon halten würde. Ein Bild zeigte mein Gesicht in Nahaufnahme, und das hielt mich minutenlang gefangen. Natürlich kannte ich mein Gesicht. Jeden Tag sah ich das Oval im Spiegel, von krausen Locken umgeben,
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