Die Herrin des Labyrints
wusste, dass ich eine gerade, schmale Nase hatte und braune Augen mit etwas schweren Lidern, die von dunklen Wimpern gesäumt waren. Noch hatte die Zeit nicht hart zugeschlagen, und außer ein paar winzigen Lachfältchen war meine Haut glatt und immer ein wenig von Natur aus gebräunt. Hübsch, aber ein bisschen alltäglich. Das abgebildete Gesicht aber gehörte einer Frau, hinter deren glatter Oberfläche ein geheimnisvolles Feuer loderte, ein schamloses Verlangen nach Leben, eine grenzenlose Sehnsucht nach Erfüllung und ein kraftvoller Wille, sich das alles zu erkämpfen. Konnte ich so aussehen?
Ich nahm das Foto und streckte mich auf dem Sofa aus, das ich mir für mein Zimmer gekauft hatte, um es nötigenfalls als Gästezimmer nutzen zu können. Es war, als ob sich Stückchen für Stückchen etwas in mir löste, als ob eine starre Mauer um mich herum plötzlich Risse bekam, eine harte Lehmkruste aufbrach und in einzelnen Bruchstücken herabfiel. Es fühlte sich seltsam an, so, wie sich ein Krebs fühlen musste, wenn er seinen Panzer abstreift, wie eine Schlange, die aus ihrer alten, trockenen, brüchigen Haut schlüpft. Es war angenehm, ein nachhaltiger Eindruck von Freiheit und Beweglichkeit, aber auch ein Gefühl von unendlicher Verletzlichkeit. Wer immer jetzt mein Feind war, konnte mich vernichten, ich war hilflos und ohne Schutz. Aber ich war endlich ich – das namenlose Kind. Ich hatte nichts und niemanden mehr, ich war allein. Und aus dieser Quelle der Einsamkeit erwuchs ein neuer Wille. Es war, als ob ich in salzigem Wasser schwebte und darin Heilung fand.
Dass ich weinte, bemerkte ich erst, als die Tränen das Kissen durchfeuchtet hatten.
KAPITEL 29
Die Mutter der Bitternis
Die Göttin trieb dahin auf dem Meer von Tränen, träumend und wartend, verloren in der Unendlichkeit der salzigen Wüste. Dass der kleine Dämon angestrengt neben ihr herpaddelte und plätscherte, um sie nicht in den Wogen zu verlieren, bemerkte sie nicht einmal. Sie öffnete erst mühsam die Augen, als eine gewaltige Welle sie emporschleuderte und sich ein riesiges Haupt aus dem Meer erhob. Wie klare Wasserströme umflossen lange Haare das perlmutterne Gesicht, und Arme aus Schaum und Gischt zogen die Göttin zu sich.
»Wer bist du?«, fragte das Haupt, und die Göttin wundertesich selbst, als sie sagte: »Ich bin, die ich bin. Und wer bist du?«
»Man nennt mich Binah, die Mutter der Bitternis, und Marah, das Meer der Tränen. Ich habe die Kraft deiner Sehnsucht gespürt und will dir nun helfen, eine Form zu finden. Was möchtest du sein?«
Die Göttin sog tief die Luft ein und ließ sich eine Weile in den Wogen von Schaum und der Gischt wiegen, bis sie traumverloren sagte: »Ich möchte eine Frau sein, liebend und machtvoll, souverän in der Nacht und beharrlich am Tag mein Ziel verfolgen. Ich möchte die Flamme der Leidenschaft hüten und über die Grenzen des Horizontes hinaus die Welt erkennen.«
»Alles gleichzeitig?«
»Geht’s auch nebeneinander?«
»Göttinnen können alles sein. Aber am besten wirst du erst einmal wach! Dann sehen wir weiter.«
»Gut, dann werde ich wach!«, sagte die Göttin und begann zu schwimmen. Es machte ihr Spaß, und sie schüttelte ihre nassen Haare, dass die Tropfen nur so flogen.
»Warum nennt man dich eigentlich die Mutter der Bitternis?«, fragte sie das schimmernde Haupt, und Binah zwinkerte mit ihren wasserhellen Augen.
»Eine kluge Frage von einer klugen Göttin. Weil es immer bitter ist, aus dem großen Meer steigen zu müssen, in dem man gestaltlos und ewig treiben kann. Weil es bitter ist, das weiche, schützende Dunkel der unteren Welten zu verlassen und in der äußeren Welt Form anzunehmen zu müssen. Weil man in jener Welt, in der die Gestalt aus Materie besteht, Schmerzen empfindet, weil dort die Zeit vergeht und die Form letztlich zerstört wird.«
»Aber ich finde meinen Geliebten wieder, wenn ich Gestalt annehme?«
»Du findest ihn wieder.«
»Dann kann es nicht so bitter sein.«
»Sag das nicht. Es mag sein, dass du die falsche Gestalt wählst, und dann wird es mehr als bitter.«
»Gibt es keine andere Lösung?«
»Schaffe dir die richtige Gestalt aus den richtigen Eigenschaften.«
»Wie finde ich die?«
»Indem du sie suchst.«
»Toller Rat. Aber was soll man sonst machen?« Entschieden stieg die Göttin aus dem Meer und wanderte den feinen Sandstrand hoch.
»Und ich?«, schrie der kleine Dämon. »Ich hab dich an die Oberwelt geführt. Lässt du
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