Die Herrin von Avalon
mir die Musik nicht mehr über den Alltag.« Er wiegte bedächtig den weißhaarigen Kopf und meinte dann: »Du ›glaubst‹, daß es Barden in deiner Familie gab. Weißt du es nicht? Wer waren eigentlich deine Eltern?«
Gawen sah ihn vorsichtig von der Seite an und überlegte. Caillean hatte endlich das Geheimnis gelüftet, ihm jedoch befohlen, seine Herkunft zu verschweigen. Der alte Brannos lebte allerdings schon so lange, daß ihn diese Geschichte kaum in Erstaunen versetzen würde.
»Kannst du glauben, daß ich ihre Namen erst seit ein paar Tagen kenne? Sie sind tot, und vermutlich wird es ihnen nicht mehr schaden, wenn andere erfahren, daß ich ihr Sohn war ... « Die Bitterkeit in seinen Worte setzte ihn selbst in Erstaunen. »Man hat mir gesagt, daß Eilan, die Hohepriesterin von Vernemeton, meine Mutter war.« Gawen dachte an ihre schöne Stimme und an den Lavendelduft, der sie immer umgeben hatte, und mußte mit den Tränen kämpfen. Schnell sprach er weiter. »Aber mein Vater war Römer. Du verstehst jetzt wohl, daß ich vermutlich am besten überhaupt nicht geboren worden wäre.«
Der alte Brannos konnte zwar nicht mehr singen, aber auf sein Gehör war noch immer Verlaß. Er hörte die Verbitterung in den Worten des Jungen und nickte verständnisvoll. »Hier bei uns ist es nicht von Bedeutung, wer deine Eltern waren. Cunomaglos zum Beispiel, der oberste Druide, der an der Spitze dieser Bruderschaft steht, stammt aus einer Töpferfamilie, die in der Nähe von Londinium lebt. Hör zu, mein Junge, wir alle auf dieser Erde wissen genau genommen nur vom Hörensagen, wer unsere Mutter oder unser Vater ist. Und du kannst mir glauben, vor dem Angesicht der Götter zählt nur das, was du selbst aus deinem Leben gemacht hast.«
Das ist wahr , dachte Gawen. Caillean hat mir gesagt, sie sei bei meiner Geburt dabei gewesen. Sie weiß natürlich, wer meine Mutter war, ich jedoch nicht. Und genau das meint der alte Barde vermutlich mit ›Hörensagen‹, denn ich muß ihren Worten vertrauen. Kann ich das? Kann ich ihr oder dem alten Mann oder überhaupt jemandem hier vertrauen?
Während er über diese Frage nachdachte, erinnerte er sich unwillkürlich an das Gesicht der Fee. Ihr konnte er vertrauen, und das schien seltsam, denn er wußte nicht einmal, ob es sie wirklich gab.
»Bei den Druiden unseres Ordens«, sprach der alte Brannos weiter, »ist die Herkunft nicht von Bedeutung. Alle Menschen werden mit nichts geboren. Der Sohn des obersten Druiden beginnt sein Leben wie der Sohn eines heimatlosen Wanderers als nackter, schreiender Säugling. Das gilt für mich ebenso wie für dich. Darin unterscheiden sich der Sohn eines Bettlers oder eines Königs und selbst der Sohn von hundert Königen nicht. Alle Menschen beginnen und enden das Leben auf die gleiche Weise ... «
Gawen hob erstaunt den Kopf. Die Fee hatte denselben Ausdruck ›Sohn der hundert Könige‹ gebraucht. Als er jetzt die geheimnisvollen Worte wieder hörte, wurde ihm heiß und kalt. Die Fee hatte versprochen, zu ihm zu kommen. Vielleicht würde er von ihr erfahren, was diese Worte bedeuteten. Sein Herz klopfte plötzlich heftig. Gawen wußte allerdings nicht, ob aus Angst oder in Erwartung.
Als der volle Mond, der sie kurz nach ihrer Ankunft in Avalon begrüßt hatte, abnahm und im ewigen Gleichlauf der Tage und Nächte zu einer schmalen Sichel wurde, stellte Caillean fest, daß ihr Leben auf der Insel schnell wieder ein ausgewogenes Gleichmaß fand, so als sei sie nie weg gewesen. Im Mittelpunkt der Tage stand der sakrale Dienst, zu dem sich alle Priester und Priesterinnen verpflichtet hatten. Wenn die Druiden bei Sonnenaufgang auf den Tor hinaufstiegen, um den neuen Tag zu begrüßen, versammelten sich die Priesterinnen zum Ritual vor der Feuerstelle. Abends, wenn die Flut im nahen Meer gegen das Land anrollte und das Wasser an den Ufern stieg, blickten sie nach Westen und verneigten sich vor der untergehenden Sonne. In der Nacht gehörte der Tor ihnen. Neumond, Vollmond und die mondlose Nacht wurden mit jeweils eigenen Ritualen feierlich begangen. Als Herrin von Avalon schützte Caillean mit ihrem geheimen Wissen nicht nur die Menschen ihrer Gemeinschaft, sondern sie fühlte sich verantwortlich für alles, was im Land geschah.
Während sie nun Eilned zu den Vorratsschuppen folgte, staunte Caillean darüber, wie schnell so etwas wie eine Tradition entstand. Der Orden der Priesterinnen lebte noch kein ganzes Jahr auf der Insel, aber Eilned
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