Die Herrin von Avalon
Diesmal hatte ihr die Euphorie der Schwangerschaft zwar über die ersten zwei Drittel der Zeit hinweggeholfen, doch die letzten drei Monate hatten ihr deutlich vor Augen geführt, daß ihr Körper nicht mehr die Spannkraft und Belastbarkeit der Jugend besaß. Das sollte wirklich mein letztes Kind sein ...
Eine Sinneswahrnehmung, die subtiler war als das Gehör, ließ sie innehalten. Sie blickte den Hügel hinauf und sah, daß ihre Tochter sie beobachtete. Wie immer rief Vivianes Anblick in ihr Stolz und Schmerz zugleich hervor. Das scharf geschnittene Gesicht ihrer Tochter verriet keine Gefühle, trotzdem entging Ana nicht die Mischung aus Neid und Verachtung, die Viviane zur Schau stellte, seit sie herausgefunden hatte, daß ihre Mutter schwanger war.
Der Neid war schwächer geworden, als sich Anas Leib immer mehr wölbte und ihre Mutter mehr und mehr einer aufgeblasenen Kröte glich.
Jetzt fängt sie langsam an, etwas mehr zu verstehen. Wenn sie doch nur begreifen würde, daß die Aufgaben einer Priesterin und besonders die Rolle der Herrin von Avalon ebensoviel Mühsal wie Freude bringen! Ich muß ihr das irgendwie verständlich machen!
Die Hohepriesterin beschäftigte sich in Gedanken mit ihrer Tochter und achtete nicht so sehr auf den Weg. Deshalb war auch der Stock keine große Hilfe, als sie an einer Stelle ausrutschte, wo die Erde besonders feucht war. Sie versuchte noch, sich beim Fallen mit einem Ruck zur Seite zu drehen, und spürte, wie die überlasteten Muskeln in ihrem Arm gequetscht wurden, als sie den ersten Aufprall abfingen. Doch nichts konnte verhindern, daß sie mit dem Rest ihres Gewichts auf den vorgewölbten Leib stürzte. Die Luft wurde schlagartig aus ihr herausgepreßt, als sie der Länge nach auf der Erde aufschlug und wie betäubt liegen blieb.
Es dauerte eine Weile, bis sie wieder klar denken konnte; dann stellte sie fest, daß Viviane neben ihr kniete.
»Ist alles in Ordnung?«
Ana biß sich auf die Lippen, denn ihre Bauchmuskeln spannten sich und zuckten, wie sie es schon seit einer Woche hin und wieder taten. Diesmal blieb jedoch ein stechender Schmerz im Unterleib zurück.
»Es wird schon gehen«, erwiderte sie gequält. »Hilf mir beim Aufstehen.«
Auf Vivianes Arm gestützt, setzte sie sich auf, und dann gelang es ihr keuchend und stöhnend, vorsichtig aufzustehen. Dabei spürte sie etwas Warmes an den Beinen. Sie blickte nach unten und sah, wie die ersten Tropfen des Fruchtwassers in der Erde versickerten.
»Was ist?« rief Viviane. »Blutest du? Oh ... « Sie hatte verstanden. Viviane hatte wie alle Novizinnen das Grundlegende über alles gelernt, was sie als Frau und Priesterin über das Gebären wissen mußte. Als sie ihrer Mutter behutsam den Arm um die Schulter legte, war sie jedoch sehr viel blasser als zuvor.
Ana schüttelte angesichts ihrer Verwirrung gereizt den Kopf.
»Stell dich nicht so an. Das alles ist ganz natürlich. Es hat angefangen.«
Viviane sah staunend, wie sich der Leib ihrer Mutter während der nächsten Wehe verkrampfte. Ana blieb stehen, klammerte sich an den Rand der Tischplatte und holte tief Luft.
Sie konnte keine Kleidung mehr auf der Haut ertragen. Die Frauen hatten deshalb ein loderndes Feuer gemacht, damit sie in ihrem Haus nicht fror. Viviane schwitzte in ihrem Gewand; Julia, der erfahrenen Hebamme, und der alten Elen dagegen schienen weder die Hitze der Flammen noch die Schmerzen der Herrin etwas auszumachen. Sie saßen am Feuer und unterhielten sich leise.
In den Stunden, die seit dem Einsetzen der Wehen vergangen waren, hatte Viviane mehr als einmal kopfschüttelnd überlegt, das alles sei eigentlich eine unmögliche Art für Menschen, auf die Welt zu kommen. Es schien ihr angemessener, an die römischen Geschichten von Geburten aus Schwaneneiern und von Störchen als Überbringer des neuen Lebens zu glauben. Das Gebären schien ihr nicht ›menschlich‹, sondern ›tierisch‹. Auf Neitens Hof hatte sie als Kind den Kühen beim Kalben zugesehen. Doch das war lange her. Obwohl sie sich daran erinnerte, daß die Kälber feucht und zappelnd ins Stroh fielen, war der Vorgang selbst nie so deutlich sichtbar gewesen wie jetzt, wo sie sah, wie sich die Muskeln im vorgewölbten Leib ihrer Mutter bis zum Zerreißen spannten.
Ana rang nach Luft, richtete sich schweißüberströmt auf und legte die Hände in den Nacken.
»Soll ich dir den Rücken massieren?« fragte Julia. Ana nickte, stützte sich auf den Tisch, und die Hebamme begann
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