Die Herrin von Avalon
dauern, wenn ich liegen bleibe.«
Sie zog sich an Vivianes Arm auf die Beine und hielt sich dann an der Schulter ihrer Tochter fest. Viviane hatte die richtige Größe, um sie so zu stützen, wie keine der anderen Frauen es konnte. So dicht nebeneinander wurde wieder einmal deutlich, wie sehr sie sich in Wirklichkeit glichen.
»Rede ... « sagte Ana, während sie im Zimmer hin und her gingen und stehenblieben, wenn eine Wehe kam. »Erzähl mir von ... Mona und dem Hof.«
Viviane sah sie erstaunt an. Ana hatte sich noch nie zuvor für die Kindheit ihrer Tochter interessiert. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob sich ihre Mutter überhaupt an Neitens Namen erinnerte. Doch die Ana, die keuchend an ihrem Arm hing, war nicht die Frau, die sie haßte. Mitleid öffnete ihr Herz und rief Erinnerungen wach. Sie erzählte von der grünen, windumtosten Insel, wo verkrüppelte Bäume sich an der dem Festland gegenüberliegenden Küste drängten und wo am anderen Ufer ausgewaschener Fels der grauen See trotzte. Sie berichtete von den verstreuten Steinen, die einmal ein Tempel der Druiden gewesen waren, und von den Riten, die in manchen Familien noch in Ehren gehalten wurden, deren Vorfahren das Massaker des Paulinus überlebt hatten. Und sie sprach von Neitens Hof und dem Kalb, das sie gerettet hatte.
»Ich nehme an, es ist inzwischen eine alte Kuh und hat selbst viele eigene Kälber«, schloß sie schließlich.
»Das klingt alles nach einem gesunden, glücklichen Leben ... Ich hatte mir das für dich erhofft, als ich dich Neiten mitgab.«
Die Schmerzen ließen nach. Ana war stehengeblieben, aber dann gingen sie wieder auf und ab, wenn auch langsamer als zuvor.
»Wirst du auch dieses Kind Pflegeeltern übergeben?« fragte Viviane.
»Ich sollte es tun, selbst wenn sie unverkennbar zur Priesterin bestimmt ist. Aber ich frage mich, ob es in dieser Zeit überhaupt einen Ort gibt, wo ein Kind in Sicherheit aufwachsen könnte.«
»Warum sollte es nicht hierbleiben? Alle haben mir gesagt, ich sei eigentlich zu alt gewesen, als meine Ausbildung begann.«
»Ich glaube ... « murmelte Ana, »ich lege mich lieber hin.« Etwas Blut floß an ihrem Bein herab. Julia kam herüber, untersuchte sie und sagte, die Gebärmutter sei vier Fingerbreit offen. Alle schienen das für einen guten Fortschritt zu halten, obwohl Viviane es nicht verstand.
»Es ist das beste ... wenn ein Kind Erfahrungen mit der Außenwelt hat. Anara ist hier aufgewachsen. Ich glaube, das hat sie in mancher Hinsicht schwach gemacht.« Anas Blick richtete sich nach innen, und ihre Kiefermuskeln spannten sich, als sie bei den nächsten Schmerzen die Zähne zusammenbiß.
»Was ist mit ihr geschehen?« flüsterte Viviane und beugte sich vor. »Wieso ist meine Schwester gestorben?«
Einen Augenblick lang glaubte sie, ihre Mutter werde nicht antworten. Dann sah sie, wie unter den geschlossenen Augenlidern Tränen hervorquollen.
»Meine Anara ... sie war so schön ... nicht wie wir«, flüsterte Ana. »Ihre Haare waren golden wie ein Kornfeld in der Sonne. Und sie wollte alles richtig machen ... «
Nicht wie wir. Da hat sie leider recht , dachte Viviane mit grimmigem Humor. Doch sie schwieg.
»Anara versicherte mir, sie sei für die Prüfung bereit, und ich wollte ihr glauben ... ich wollte, daß es so war. Also ließ ich sie gehen. Ich flehe die Göttin an, Viviane ... « Ana umklammerte ihren Arm, »daß du nie wie ich deine Tochter tot in den Armen halten mußt!«
»Hast du meine Einweihung deshalb verschoben?« fragte Viviane erstaunt. »Hast du Angst um mich?«
»Bei den anderen kann ich es beurteilen, wenn sie soweit sind, aber bei dir nicht.« Sie wimmerte leise, als die nächste heftige Wehe kam, und krümmte sich. Erst nach einer Weile richtete sie sich wieder auf und lehnte sich an Viviane. »Ich glaubte zu wissen, daß Anara bereit war. Ich dachte, ich wüßte es!«
»Herrin, du mußt dich entspannen!« Julia beugte sich über sie und sah Viviane kopfschüttelnd an. Dann sagte sie zu Ana: »Laß das Mädchen jetzt gehen. Ich bleibe eine Weile bei dir.«
»Nein ... « flüsterte Ana. »Viviane muß bei mir bleiben.«
Julia runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Sie begann, Anas gespannten Leib behutsam zu reiben. In der einsetzenden Stille hörte Viviane leise Töne. Sie wußte plötzlich, daß sie die Melodie schon lange Zeit wahrgenommen hatte, ohne darauf zu achten. Im Geburtszimmer war kein Mann zugelassen. Taliesin mußte vor dem Haus
Weitere Kostenlose Bücher