Die Herrin von Avalon
umgibt, sie alle mit sich riß. Die Männer des kleinen Volkes lächelten geheimnisvoll und sprachen von der Göttin der Quelle, die in Zeiten der Not erschienen war, um ihnen zu helfen.
Taliesin kam der Wahrheit vielleicht am nächsten, als er der Hohepriesterin von dem Ereignis berichtete. Er war klug genug, um zu wissen, daß menschliche Worte die Wahrheit nur entstellen können, wenn etwas Überirdisches in der Welt erscheint.
Viviane blieb die Erinnerung an einen Augenblick göttlicher Klarheit. Man schenkte ihr einen Kranz aus Feenblumen, den Vater Fortunatus durch einen Mann vom kleinen Volk überbringen ließ.
20. Kapitel
Der Winter verging ruhig. Die erste Kälte hatte die Sachsen zurück in die Lager im Osten getrieben. Die Opfer behandelten ihre Wunden und machten sich daran, ihre Häuser wieder aufzubauen. In Avalon erfuhr man, daß Vortigerns Söhne Hengist auf die Insel Tanatus zurückgedrängt hatten und ihn dort belagerten.
Die Welt übte sich in Geduld und hoffte auf den nächsten Frühling. In Avalon warteten alle darauf, daß das Kind der Herrin geboren würde.
Viviane hatte nach dem Überfall der Sachsen noch einmal darum gebeten, zur Priesterin geweiht zu werden. Sie nahm es gelassen und nicht sonderlich überrascht hin, daß ihre Mutter ablehnte. Ana erklärte, man müsse sie im Grunde bestrafen, weil sie eigenmächtig gehandelt habe. Der Erfolg war ihre einzige Rechtfertigung. Der Rat hätte dieses Vorgehen niemals gebilligt, doch ein Fehlschlag hätte eine göttliche Strafe nach sich gezogen. Die Hohepriesterin konnte jedoch nicht verurteilen, was der Gral selbst gutgeheißen hatte. Trotzdem hielt Ana es nicht für angebracht, ihre Tochter für diese Anmaßung auch noch zu belohnen.
Viviane beschwerte sich nicht. Sie und ihre Mutter wußten beide, daß Viviane Avalon verlassen konnte, wann immer sie es wollte. Nach der Geburt würde eine Entscheidung fallen, denn das Kind würde alles verändern, ganz gleich, ob Junge oder Mädchen, sobald es Vivianes Stelle einnehmen konnte.
Das Fest der Briga ging vorüber, die Blüten an den Apfelbäumen begannen zu fallen. Der Frühling näherte sich der Tag-und Nachtgleiche, und die Wiesen, die nach der Überflutung im Winter saftig grün wurden, schmückten sich mit Löwenzahn, kleinen violetten Orchideen und den ersten weißen Sternen der Anemonen. An den feuchten Stellen blühten Hahnenfuß und vereinzelt auch die buttergelben Sumpfdotterblumen; entlang dem Ufer zeigten sich die ersten blauen Schwertlilien, und im Gras lagen Vergißmeinnicht wie auf die Erde gefallene Sterne. Das Wetter wurde unbeständig. An einem Tag war es stürmisch mit einem Anflug von Winterkälte, am nächsten lächelte die Sonne mit einem Versprechen von Sommerhitze. Die Hohepriesterin wußte um die Schwankungen der Natur im Frühling und sorgte mit angemessener Kleidung und Ernährung dafür, daß sie und das neue Leben den Schutz von Avalon genossen. So wuchs Anas Kind sicher im Leib seiner Mutter heran.
Die Hohepriesterin stand mit Hilfe ihres Stocks mühsam von der Bank auf und setzte den Aufstieg fort. Bisher wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, etwas, das die jüngeren Priesterinnen tagtäglich dutzende Male taten, für mühsam zu halten. Aber in ihrem derzeitigen Zustand empfand sie die Bank, die als Rastplatz für die älteren Mitglieder der Gemeinschaft auf halbem Weg zwischen dem Ufer und der Versammlungshalle stand, als eine Wohltat. Der Stock diente ihr nicht als Stütze, sondern half ihr, das Gleichgewicht zu halten, falls ihr Fuß auf einem Stein umknickte, den sie übersehen hatte.
Sie blickte mit einer Mischung aus Gereiztheit und Stolz auf ihren gewölbten Leib.
Sie stöhnte. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein vollgefressener Karrengaul. Die Schwangerschaft, die einer größeren Frau ein stattliches und würdevolles Aussehen gegeben hätte, machte sie zu einer grotesken Erscheinung. Taliesin war schlank und groß. Mit einem etwas ratlosen Blick auf ihren Leib vermutete Ana, daß das Kind ihm nachschlagen würde. Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, daß sie ihre ersten beiden Töchter ohne besondere Schwierigkeiten zur Welt gebracht hatte. Es waren ebenfalls ›große‹ Kinder gewesen.
Aber damals , dachte sie etwas bekümmert, war ich auch noch nicht beinahe vierzig .
Als Sechzehnjährige war sie bis zum Tag der Entbindung den Tor ohne Mühe hinauf-und hinuntergelaufen, ohne ein einziges Mal stehenbleiben zu müssen, um Atem zu schöpfen.
Weitere Kostenlose Bücher