Die Herrin von Avalon
dagegen beständiger zu sein. Die älteren Druiden standen neben den beschädigten Steinen und glichen die Störungen mit ihren geschulten Stimmen aus.
Caillean fühlte sich bereit, noch einmal die gerufenen Energieströme auf sich zu versammeln, und stimmte den dritten Gesang an.
Die hohen Stimmen der anderen Priesterinnen fielen ein, und Caillean zweifelte nicht mehr an der Wirkung, denn jetzt konnte sie den Regenbogen sehen, der sich in Richtung der Sonnenbahn langsam zu drehen begann. Der Fluß der Kraft ließ sich nicht unter Kontrolle bringen, aber dem Regenbogen konnte man sich anvertrauen und sich von ihm nach oben tragen lassen. Sie mußten nur noch für die richtige Richtung sorgen.
»Ich singe die geweihten Steine von Avalon«, ertönte aus ihr der vierte Gesang.
»Ich singe den Ring des unzerstörbaren Lebens«, Sianna nahm das Lied auf.
»Ich singe das Licht, das sich über alle Schmerzen erhebt«, hörten sie überraschend klar Gawens Stimme.
»Gott und Göttin gehört dieses Heiligtum ... «
»Das grüne Gras auf den Wiesen wächst im Kommen und Gehen der Zeiten ... «
»Die Blüten der Bäume, Sträucher und Blumen neigen sich im Wind ... «
Im Begreifen der Allmacht der Natur schwangen sie sich hinauf über Avalon, das im Regenbogenlicht unter ihnen lag. Dünne Nebelschleier dämpften den rosigen Schimmer des Wassers bei Sonnenaufgang, dann strahlte klar und hell das silberne Licht des Mittags, und schließlich setzte die Abendglut der Sonne das Schilf in Flammen. Sie besangen die Schönheit des Tors während der weißen Pracht der Apfelblüte im Frühling, das saftige Grün in der Mitte des Sommers und das bunte Laub in der metallischen kalten Luft des Herbstes. Der Gesang gewann immer mehr Macht, erreichte die anderen Inseln und strebte mit den hohen Wipfeln der alten Eichen gen Himmel. Er löste sich von der Erde, wo die bittersüßen Waldbeeren in der Sonne reiften. Sie sangen von grünen Inseln, von Eichen, die bis in den Himmel reichten, von den bunten Vögeln im Schutz der Dornen.
Alle waren erfüllt von der wachsenden Gewißheit, daß die Musik sie tragen würde. Die Kraft innerhalb des Rings wuchs langsam, aber stetig und drang bis zu den Orten, an denen die Druiden das neue Gebiet abgesteckt hatten, umfloß und umfaßte schließlich wie in einer leidenschaftlichen Umarmung die gesamte Konstellation der sieben Inseln. Das Dreigestirn vor dem Altar bildete die Achse des sich langsam drehenden Rads: die Hohepriesterin von Avalon, die Tochter der Fee und der Pendragon.
Alle trennenden Grenzen und alle Gefühle waren überwunden. Sie wirkten mit der befreiten Kraft ihrer Herzen und mit einem Wissen, das jenseits von männlicher oder weiblicher Ausrichtung war, das beide Seiten in sich vereinte. Sie wurden zum Mittelpunkt des Gesangs und in ihrer neu erschaffenen Welt zur alles bewirkenden Einheit.
Dann vernahmen sie plötzlich eine andere Stimme. Sie klang sanft und reich an Erfahrung und Weisheit. Diese Stimme wehte aus der anderen Welt zu ihnen herüber. Die Fee sang ebenfalls von Avalon, aber die Schönheiten, die sie beschwor, waren zeitlos und überirdisch und gehörten zu dem inneren Avalon der Mondnächte, das zwischen den Welten liegt.
Kein Sterblicher hätte dem Ruf dieser Stimme widerstehen können. Cailleans Seele stieg von allen Lasten befreit zu den Sternen hinauf. Plötzlich hatte sie den Eindruck, daß ein Beben die Erde erschütterte. Sie taumelte vorwärts und umklammerte den Altarstein. Der Boden unter ihren Füßen bewegte sich. Doch ihre Verbindung zu den beiden anderen war wie ein rettendes Seil, an das sie sich klammerte, als die Wellen der Erschütterung sie höher und höher aus der menschlichen Wirklichkeit forttrugen.
Sie sah den Ring der Steine nicht mehr, sondern nur noch die beiden Gefährten. Sie schwebten in einer Wolke aus Licht. Da wußte die Hohepriesterin, daß sie sich nicht länger in ihren Körpern befanden. Gawen neben ihr war so gesund wie in der Nacht zuvor, und Sianna stand lachend neben ihm. Caillean streckte ihre Hände aus, und die beiden ergriffen sie glücklich. Bei der Berührung schoß der geballte Strom der Kräfte durch sie hindurch. Sie drohte zu verglühen, zu erstarren, sich aufzulösen und zu verlöschen. Aber dann ertönte im Sternenband des Großen Bären der erlösende Klang der antwortenden Kraft. Das Leben wurde ihr neu geschenkt, und ein großer Friede senkte sich auf sie herab.
»Es ist vollbracht ... «, hörten sie
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