Die Herrin von Avalon
für die Harfe zu verkrümmt sein, den Atem hatte er noch voll unter Kontrolle. Zuerst drang der Klang leise durch die Luft, dann gewann er an Lautstärke, als ziehe er die Kraft aus der Nacht, und erfüllte schließlich die Dunkelheit mit einem so mächtigen Ton, daß man glauben konnte, die Sterne würden davon erbeben.
Caillean spürte den Schauer, mit dem sich die Trance ankündigte, und wußte, was sie hörte, war nicht nur das, was die Ohren aufnahmen. Welcher Mensch vermochte mit seinen Klängen die ganze Welt zum Tönen zu bringen? Welche Sinne des Körpers waren in der Lage, das alles aufzunehmen? Ihr Geist hörte die Entfaltung druidischer Willenskraft, die jeder Priester, der das alte Wissen gelernt hatte, beschwören konnte.
Sie blickte sich um. Sie hatten den Ring der Steine so gut wie möglich wiederhergestellt, die umgestürzten Steine aufgerichtet und das Zerbrochene mit heilenden Sprüchen miteinander verbunden. Doch die eigentliche Kraft in dieser Nacht beruhte auf dem Kreis der Menschen und ihrem gemeinsamen Geist. Die Bewohner von Avalon bildeten mit einem inneren und einem äußeren Kreis einen Schutzwall und wirkten als Übermittler der Kraft, die aus den Steinen kam. Der Tanz, der am Tag nicht hatte stattfinden können, würde jetzt nachgeholt werden. Caillean gab Riannon das Zeichen, und die Musik setzte ein.
Die Priesterin spielte die erhabene und doch heitere Weise, die schon alt war, als die Druiden auf die Insel kamen. Die Tänzer beider Kreise begannen, sich in Richtung der Sonne um den Ring zu bewegen. Sie teilten sich, um zwischen den Steinen hindurchzugehen, und wechselten vor dem nächsten den Kreis von neuem, so daß die Steine in gewundene Lichtspuren eingebunden waren. Von innen nach außen und von außen nach innen zogen die Tänzer. Mit jedem neuen Umlauf wuchs die Ekstase und schwand das Bewußtsein.
Caillean spürte, wie der Strom der Kraft stärker wurde; das Licht war die sichtbar gewordene Energie, die um den Rand des Kreises wirbelte. Sie geriet flüchtig ins Stocken, wenn sie die beschädigten Steine erreichte, wie Wasser an einem Hindernis. Doch wie Wasser folgte sie dem Weg des geringsten Widerstandes. Das Strömen brach nicht ab, denn die Entschlossenheit der Tänzer würde die Kraft zum Ziel bringen.
Der Tanz wurde schneller und schneller. Die Hohepriesterin verankerte sich mit einem Teil ihres noch erreichbaren Bewußtseins in der Erde des Tors. Sie hatte das schon so oft getan, aber sie war jedesmal aufs neue überrascht, wenn die Kraft durch sie hindurchzufließen begann.
Die Luft innerhalb des Rings wurde immer leichter. Sie öffnete die Augen und sah, daß Steine und Tänzer in einen goldenen Schein gehüllt waren. Caillean hob die Hände, um das Licht zu sammeln. In einer Dimension, die nur einen Atemzug entfernt lag, wartete die Fee. Wenn die Tänzer genug Kraft beschwören konnten und wenn Caillean stark genug war, um sie zu sammeln, dann konnte die Fee damit Avalon aus dem Reich der Menschen entfernen.
Die Kräfte stauten sich zu schwindelerregend hohen Wellenbergen auf. Die Störungen durch die geborstenen Steine machten sich immer deutlicher bemerkbar. Caillean konnte nur mit großer Mühe das Gleichgewicht halten. Sie dachte daran, wie sie einmal in einer stürmischen Nacht auf die Insel zurückgekehrt war. Das Boot hatte wie eine Nußschale auf den Wellen des Sees getanzt. Am Ufer standen die Retter, aber Caillean mußte es gelingen, das lange Seil den helfenden Händen zuzuwerfen. Sie gab sich alle Mühe, schleuderte das Seil über Bord und wäre beinahe mit ins Wasser gerissen worden. Nur ein kurzes Nachlassen des Windes hatte sie damals gerettet.
So ähnlich kam es ihr jetzt vor. Sie schwankte und wurde von den Wogen der Kraft wie ein willenloses Spielzeug erfaßt. Sie konnte die beschworenen Kräfte sammeln, aber nicht von sich weglenken.
» Laß los! «
Caillean wußte nicht, ob die Stimme von außen oder von innen kam. Aber sie hätte ohnehin nicht länger durchhalten können. Als ihr Wille, an den sie sich geklammert hatte, aussetzte, brach sich die Kraft eine Bahn nach außen, und Caillean stürzte zu Boden.
»Tut mir leid ... ich war nicht stark genug.«
Caillean wußte, daß sie hilflos vor sich hin murmelte. Sie blinzelte. War sie wirklich wach, oder war das alles nur ein Traum? Nach einer Weile begann die Welt um sie herum wieder feste Gestalt anzunehmen. Sie lehnte mit dem Rücken gegen den Altarstein. Die Gesichter, die sich auf
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