Die Herrin von Avalon
wie die Römer mit ihrer Macht das Land unter ihrer Herrschaft halten können.
Das gilt natürlich auch für Avalon.
Tagsüber denke ich an die Vergangenheit, aber letzte Nacht träumte ich, daß wir uns auf dem Tor zum Vollmondritual versammelt hatten. Ich schaute in die silberne Schale und sah dort die Zukunft in einigen Bildern. Ich sah einen Kaiser. Sie nannten ihn Antoninus. Er ließ Hadrians Mauer hinter sich und marschierte weiter in den Norden, um einen neuen Wall in Alba zu bauen. Aber die Römer konnten diese neue Grenze nicht halten. Schon wenige Jahre später rissen sie ihre Festungen wieder ab und kehrten zurück. Auf Zeiten des Friedens folgten Zeiten der Kriege. Ein neues Bündnis der nördlichen Stämme gab den Kriegern wieder Mut. Sie überrannten die Mauer, und ein anderer Kaiser mit dem Namen Severus kam nach Britannien, um den Aufstand niederzuschlagen. Er kehrte nach Eburacum zurück und starb.
Vor meinem inneren Auge sah ich zweihundert Jahre vorüberziehen. In all der Zeit schützten die Nebel Avalon. Im Süden Britanniens wurden die Britonen und die Römer zu einem Volk. Ein neuer Kaiser, er hieß Diocletian, machte sich an das Werk, die Wunden der letzten Bürgerkriege im Reich zu schließen.
Aber die kämpferischen und blutigen Auseinandersetzungen mit den Römern rissen nicht ab. Ich sah meine Priesterinnen, die Generation um Generation der Göttin auf dem heiligen Tor dienten. Einige wurden die Gemahlinnen von Fürsten und sorgten dafür, daß das alte Wissen in der Welt nicht völlig in Vergessenheit geriet. Manchmal, so schien es mir, erinnerten mich ihre Züge an Gawen, und andere glichen in ihrer Schönheit Eilan oder der dunklen Fee in der Gestalt, in der sie sich uns zeigte.
Mich selbst sah ich in Avalon nicht wiedergeboren. Durch das Wissen der Druiden ist mir bekannt, daß einige Seelen die Kreisläufe der Welt für immer verlassen, wenn der Körper sie freigibt. Es sind jene, die ihr Werk hier vollendet haben. Ich glaube nicht, daß ich zu diesen erleuchteten Seelen gehöre. Aber wenn die Göttin barmherzig ist, wird SIE meiner Seele erlauben, meine Kinder zu beschützen, bis es von neuem notwendig ist, daß ich auf die Erde zurückkehre.«
DIE HERRSCHERIN
285 - 293
9. Kapitel
Seit dem späten Vormittag regnete es. Die dicken Umhänge der Reisenden hatten sich mit Wasser vollgesogen und wurden immer schwerer. Dunstschwaden verhüllten die Berge mit fast undurchsichtigen Schleiern. Die vier Freigelassenen, die sich als Eskorte der Herrin von Avalon verdingt hatten, um sie sicher nach Durnovaria zu bringen, saßen zusammengekauert im Sattel. Der Regen tropfte unaufhörlich von den dicken Keulen, die an ihren Gürteln hingen. Auch die junge Priesterin und die zwei Druiden, die zum Gefolge der Hohepriesterin gehörten, hatten die Kapuzen ihrer Wollumhänge bis tief über die Augen gezogen.
Dierna seufzte. Sie hätte sich am liebsten wie die anderen gehenlassen, aber ihre Großmutter hatte sie oft genug darauf hingewiesen, daß die Herrin von Avalon stets ein Vorbild sein mußte. Die Großmutter saß bis zu ihrem Tode kerzengerade im Sattel. Selbst wenn sich Dierna über das Gebot hätte hinwegsetzen wollen, es wäre ihr nicht möglich gewesen. Erziehung und Ausbildung als Priesterin waren Teil ihres Wesens geworden. Bei diesem Gedanken lächelte sie spöttisch über sich selbst. Auch als Hohepriesterin hatte sie noch nicht die Antwort auf die Frage nach ihrem ›Wesen‹ gefunden.
Regen, Kälte und ein schmerzender Rücken sind die besten Mittel, um nicht Opfer gefährlicher Illusionen zu werden .
Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis das Ende der mühsamen Reise bevorstand. Der Weg stieg bereits an, und sie waren nicht mehr allein auf der Straße unterwegs. Noch vor Einbruch der Nacht würden sie Durnovaria erreichen. Dierna hoffte, daß sich der große Aufwand der Reise auch lohnen werde ...
Cornec, der jüngere der Druiden, hob die Hand und deutete nach vorne. Dierna nickte. Sie sah die hohen Bögen des Aquädukts zwischen den Bäumen.
»Ja, es ist ein Wunder«, meinte sie staunend. »Vor allem deshalb, weil es keinen Grund für dieses Bauwerk gibt, denn die Bewohner von Durnovaria können ihr Wasser aus den Brunnen der Stadt holen. Ein Vorfahre des Fürsten der Durotriges hat es gebaut. Er wollte wie die römischen Magnaten unsterblichen Ruhm erringen, indem er aufwendige und alles andere übertreffende Bauwerke für die Stadt errichten ließ.«
»Fürst Eiddin
Weitere Kostenlose Bücher