Die Herrin von Avalon
auf dieselbe Weise und so entschlossen, wie sie die störenden Gedanken ausgeschlossen hatte. Als das Wogen und Drehen, das Wirbeln und Fallen allmählich nachließen, wurde ihr Blick wieder klar, bis sie wußte, daß sie auf dem Altar lag und in den nächtlichen Himmel blickte. Aber nicht nur die Zeit hatte sich verändert. Der Stein, auf dem sie lag, war warm. Sie spürte, wie die Kräfte der Erde durch seine inneren Adern flossen. Doch an diesem Abend suchte Dierna etwas am Himmel. Sie betrachtete ihn mit einer konzentrierten Aufmerksamkeit und Hingabe, die sie im normalen Zustand niemals hätte aufbringen können.
Der Himmel war klar. Der Mond schien so hell, daß nur die größten Sterne zu sehen waren. Dierna blickte in das unendliche, sternenübersäte All und hatte das Gefühl, in seine Endlosigkeit hineinzufallen.
Eine Weile fand sie eine kindlich beseligende Freude an dem unvergleichlichen Strahlen und Funkeln. Doch sie hatte sich nicht zum Vergnügen auf diesen langen Weg gemacht. Mit einem Seufzen suchte sie die großen Konstellationen, die das Firmament beherrschen. Die Augen der Menschen sahen nur scheinbar zusammenhanglose Sterne am nächtlichen Himmel. Aber Dierna erkannte in ihrer Trance die geistigen Muster jener Sterne, die den Konstellationen ihre Namen gaben.
Direkt über ihr wanderte der Große Bär um den Polarstern. Im Laufe der Nacht würde er nach Westen ziehen und wieder am Horizont versinken. Der Bär war das himmlische Gegenstück der Insel von Avalon. Dierna wollte die anderen Sterne beobachten, die mit dem Großen Bären am Himmel erschienen, um zu erfahren, welche Kräfte des Himmels die nahe Zukunft bestimmen würden.
Je länger sie auf den Großen Bären blickte, desto heller schienen seine Sterne zu werden. Welche von ihnen erreichten ihr Bewußtsein?
Ihr Blick richtete sich nach Süden zum Adler. War er vielleicht der Adler von Rom? Das Sternbild war hell, strahlte jedoch nicht so wie der Drache, der sich über die Mitte des Himmels wand. In seiner Nähe leuchtete in unberührter Majestät die Jungfrau.
Die Hohepriesterin drehte den Kopf ein wenig zur Seite und suchte nach dem zuverlässigen Strahlen jener Sterne, die in unveränderlichem Gleichmaß über den Himmel ziehen. Am nördlichen Rand des westlichen Horizonts erschien unvergleichlich hell die Göttin der Liebe. Das rötliche Schimmern des Kriegsgottes tauchte in ihrer Nähe auf.
In diesem Augenblick veränderte sich etwas. Farbige Lichtbänder zuckten über den Himmel, und Dierna spürte, wie ihr Herz heftig zu klopfen begann. Sie rang um Gelassenheit. Der Trank hatte seine volle Wirkung entfaltet und trug sie noch höher, bis sie die Ebene erreichte, wo Erscheinung und Bedeutung miteinander verschmelzen. Die Strahlen der beiden Planeten, des Kriegsgottes und der Göttin der Liebe, tauchten sie in gleißendes Licht, und plötzlich sah sie die Gottheiten selbst. Der Gott warb um die Göttin, deren Hingabe gleichsam ein Sieg war.
Der Schlüssel zu allem ist die Liebe. Liebe ist das Zauberwort, mit dem sich der Krieger unserer Sache verschreiben wird ...
Diernas Blick glitt über den südlichen Horizont und fand den Planeten des Himmelskönigs.
Die herrschende Macht sitzt im Süden ...
Bilder von Marmorsäulen und vergoldeten Treppen, von feierlichen Prozessionen und zahllosen Menschen zogen vor ihrem inneren Auge vorbei.
Ist das Rom?
Ihr Blick weitete sich. Dierna erkannte die goldenen Adler der Legionen. Sie wurden im Triumphzug zu einem weißen Tempel getragen. Dort saß eine kleine in Purpur gehüllte Gestalt und wartete auf sie.
Der römische Herrscher wirkte majestätisch und stark, aber sehr fremd.
Wie sollen diese Menschen etwas für Britannien tun, das am Ende des Riesenreichs liegt?
Die Römer würden an das Wohlergehen der Britonen keinen Gedanken verschwenden.
Der Adler soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern! Wir müssen den Drachen rufen. Nur er kann sein Volk vor Unheil bewahren, so wie wir einst unter seinem Schutz standen ...
Bei diesem Gedanken verwandelte sich das Sternbild des Drachen in eine Regenbogenschlange, die nach Norden über den Himmel zog.
Dierna ließ sich von dem erhabenen Schauspiel verzaubern. Trotz ihrer Disziplin wurde sie erfaßt vom Sog der Bilder, die sie weder aufhalten noch kontrollieren konnte. Aus Farben wurden schwarze Wolken, die über ein sturmgepeitschtes Meer trieben. Der Wind heulte so laut, daß der Lärm ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte.
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