Die Herrin von Avalon
stimmt!« riefen die anderen. »Die Piraten werden immer dreister.«
Cigfolla griff in den Flachs und setzte ihre Spindel wieder in Gang. »Die Welt dreht sich wie diese Spindel ... Nichts bleibt für immer so, wie es ist. Wir haben nur eine Gewißheit: Auf das Gute folgt das Böse. Ohne Veränderung könnte nichts wachsen. Manchmal bekomme auch ich es mit der Angst zu tun, aber ich habe zu viele Winter erlebt, um nicht zu wissen, daß uns stets ein neuer Frühling von Eis und Schnee befreit ... « Sie hob das Gesicht zur Sonne, und Teleri sah, wie ihre blauen Augen strahlten.
Sie hat recht , dachte Teleri. Ich darf nie vergessen, daß auch der schrecklichste Alptraum mit dem Aufwachen endet!
Je länger die Tage wurden, desto wärmer schien die Sonne. Das Gras wuchs dicht und saftig grün am Ufer, während die Sümpfe langsam austrockneten. In der Welt draußen wurden die Straßen wieder befahrbar. Händler und Reisende zogen mit Waren über Land und brachten Neuigkeiten mit.
In diesem Frühjahr wagten bei dem anhaltend guten Wetter auch die Schiffe früher als sonst die Überfahrt über den Kanal. Die Piraten machten sich auf ihre Weise die Lage zunutze und überfielen immer dreister die Schiffe der Kaufleute.
Obwohl Dierna Avalon nicht verließ, erreichten die Nachrichten auch sie. Frauen, die auf der heiligen Insel ausgebildet worden waren, umherziehende Druiden und ein Netz von Informanten, das ganz Britannien umspannte, sorgten dafür, daß die Hohepriesterin über das Geschehen im Land unterrichtet wurde. Ihre Nachrichten trafen zwar meist nicht so schnell am Ziel ein wie die an den römischen Statthalter gerichteten, aber sie stammten aus anderen Quellen.
Als der Mond in der Mitte des Sommers immer voller wurde, zog sich die Hohepriesterin zur Klausur in die Einsamkeit zurück. Drei Tage wollte sie in der abseits gelegenen Hütte auf Briga bleiben. In dieser Zeit nahm sie keine Speisen zu sich, sondern trank nur Wasser aus der heiligen Quelle. Die vielen Nachrichten mußten durchdacht und miteinander in Einklang gebracht werden. Erst dann würde ihr die Göttin vielleicht offenbaren, was geschehen sollte.
Der erste Tag fiel Dierna immer am schwersten. Sie beschäftigte sich mit den Aufgaben und den Menschen, die sie zurückgelassen hatte. Die alte Cigfolla wußte besser über alles Bescheid als sie selbst, und auch auf Ideg, die etwas älter war als sie, konnte sich Dierna verlassen. Die jungen Mädchen im Haus der Jungfrauen waren in den besten Händen. Wenn sie auf Reisen ging, mußte sie den Priesterinnen auch jedesmal ihre Pflichten und Aufgaben überlassen.
Die Priesterinnen wußten, was sie tat, aber ihre drei Kinder ... Wie sollte sie ihnen erklären, daß sie nicht erreichbar war, obwohl sie doch ganz in der Nähe weilte? Dierna sah die Gesichter vor sich. Ihre erste Tochter war schlank und hatte dunkle Haare. Alle sagten, sie sei ein Kind der Fee. Die Zwillinge dagegen waren übermütig und hatten rote Haare. Dierna sehnte sich nach ihnen. Sie wußte, ihre Töchter waren wie sie dazu geboren, Avalon zu dienen. Deshalb mußten sie früh lernen, daß man für diese ehrenvolle Aufgabe einen hohen Preis zu bezahlen hatte. Ihre erste Tochter lebte bereits bei einer Familie, die aus Avalon stammte. Sie hatten sich auf der alten Druideninsel Mona ein Haus gebaut. Die Zwillinge würde sie ebenfalls bald Zieheltern übergeben müssen. Das schmerzte sie bereits jetzt, aber die beiden würden wenigstens nicht allein sein. Vielleicht sollte sich ihr Sohn nicht allzu sehr an die Mutter gewöhnen ...
Dierna schüttelte unwillig den Kopf. Sie wußte, solche Gedanken waren nichts als sinnlose Ablenkungsmanöver, weil der Verstand versuchte, von der eigentlichen Aufgabe fortzulocken. Doch es half wenig, die Gedanken zu unterbinden. Sie mußten an die Oberfläche des Bewußtseins steigen, um dann in die richtige Richtung gelenkt zu werden. Die Hohepriesterin blickte wieder auf die flackernde Öllampe und suchte die innere Ruhe. Bei Sonnenaufgang am nächsten Morgen hatte sie ihr inneres Gleichgewicht gefunden. Mit großer Gelassenheit und Konzentration konnte sie alle Nachrichten, die sie erhalten hatte, betrachten und mit ihrem geschulten Bewußtsein überprüfen. Sie unterbrach die unbeteiligte Schau den ganzen Tag lang nicht, ließ Berichte über Ernten und Kriege, über Truppenbewegungen und das Geschehen auf den Märkten an sich vorüberziehen, oder sie dachte an den Aufstieg und den Fall der Herrscher.
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