Die Herrin von Avalon
Die Ströme der Macht, die ihren Geist über dem Land gelenkt hatten, verloren sich in diesem Tumult der Kräfte. Sie mußte ihre ganze Kraft aufbieten, um dem Schrecken der Tiefe zu widerstehen, um sich zu zwingen, nicht gegen den Sturm anzukämpfen und nach den Rhythmen zu suchen, die hinter seinen dissonanten Harmonien lagen.
Auf dem Meer wurden Schiffe wie Spielzeug umhergeschleudert. Sie waren der Wut der Elemente noch hilfloser ausgesetzt als Dierna, denn sie boten eine Angriffsfläche, da sie aus Planken und Masten bestanden. Außerdem standen auf ihnen Männer aus Fleisch und Blut, die um ihr Leben kämpften. Dierna ließ sich mutig von einer heftigen Bö erfassen und wurde zu dem größten Schiff getragen. Sie sah die Seeleute, die sich verzweifelt an die Ruder klammerten. Todesangst ging wie flackerndes, zuckendes Licht von ihnen aus. Diese Männer hatten schon viele Stürme erlebt, aber diesmal glaubten sie, von den Gewalten in die nasse Tiefe gerissen zu werden. Im Auf und Ab der Wellen, die sie drehten, schaukelten und in alle Richtungen schleuderten, hatte die Besatzung schon lange die Orientierung verloren. Niemand wußte, wo die rettende Küste sein mochte.
Unter ihnen befand sich ein Mann, der unverzagt und breitbeinig an Deck stand. Er hatte ein rundes Gesicht und einen breiten Oberkörper. Die hellen Haare wurden ihm von der Gischt an den Kopf geklatscht. Er war von mittlerer Größe, aber mit seiner unbeirrten Ruhe unterschied er sich von allen anderen. Er hatte die Augen zusammengekniffen und spähte unbeirrt in die Dunkelheit.
Wo war das rettende Land?
Dierna ließ sich vom Wind nach oben tragen und durchdrang mit ihrem geistigen Auge das Unwetter. Im nächsten Augenblick sah sie hohe Klippen aus dem Meer aufragen, an deren Fuß sich die Wellen donnernd brachen. Dahinter war das Wasser ruhig. Durch die regennassen Wolken hindurch erkannte sie die weite Rundung einer Bucht. Zuckende Sturmlichter brannten entlang der steinigen Küste.
Aus reinem Mitleid dachte sie an den Mann auf dem Schiff. Doch je näher sie ihm kam, desto deutlicher spürte sie seine außergewöhnliche innere Ruhe. Seine Seele ließ sich nicht von Angst oder Panik überwältigen.
Ist er der Führer, den ich suche?
Die Hohepriesterin machte sich die entfesselten Kräfte der Elemente zunutze, die sich im Sturm frei entfalteten, und schuf damit eine Gestalt, die auch von Menschen erkannt werden konnte. In weiße Gewänder gehüllt schritt sie über die Wellen. Bei ihrem Anblick stieß einer der Matrosen einen überraschten Ruf aus. Die anderen wurden ebenfalls auf die Erscheinung aufmerksam; alle Blicke richteten sich auf sie. Dierna hob den weißen, durchscheinenden Arm und deutete in Richtung der Küste ...
»Dort ... Siehst du sie? Dort geht sie auf den Wellen!« rief der Proreta von seinem Platz am Bug.
»Ein Wunder! Eine Frau in Weiß erscheint uns mitten im Sturm!« rief ein anderer.
Der Wind peitschte das Wasser mit erneuter Wut. Die Wellen türmten sich noch höher auf und schienen das zerbrechliche Schiff zu verschlingen. Das Dubris-Geschwader war schon seit Stunden auseinandergerissen worden. Marcus Aurelius Musaeus Carausius, ihr Navarch, harrte jedoch unbeirrt am Hintersteven der Hercules aus. Unwillig wischte er sich das Salzwasser aus den Augen und versuchte, etwas zu sehen.
»Haltet Kurs!« rief Aelius, der Triarch, der das Schiff befehligte. »Haltet Ausschau nach Felsen und laßt euch nicht von dem hohen Seegang beeindrucken!«
Steuerbord erhob sich in diesem Augenblick eine haushohe Welle. Ihr zuckender Kamm leuchtete fahl im Mond, der kurz durch die Wolken blickte. Das Deck neigte sich bedrohlich weit zur Seite. Die Ruder tauchten aus dem Wasser auf und bewegten sich zappelnd wie die Beine eines umgefallenen Käfers. Von Backbord hörte man ein bedrohliches Krachen. Das Holz der Ruder, die auf der anderen Seite tief ins Wasser tauchten, barst unter der Wucht des Aufpralls.
»Neptun!« rief der Triarch, als sich das Schiff langsam wieder aufrichtete. »Noch so eine Welle, und wir versinken!«
Carausius nickte. Sie hatten nicht mit einem solchen Unwetter zu dieser Jahreszeit gerechnet. Sie waren bei Tagesanbruch in Gesoriacum in See gestochen, wollten den Kanal an der schmalsten Stelle überqueren und bei Einbruch der Dunkelheit in Dubris anlegen. Aber der unheimliche Sturm trieb mit ihnen sein Spiel. Sie befanden sich mittlerweile weit im Westen und würden nur mit Hilfe der Götter einen sicheren
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