Die Herrin von Avalon
die aus Atlantis geflohen waren.
Teleri lauschte fasziniert dem alten Druiden, der sie unterrichtete. Die Priester aus dem versunkenen Land hatten die Menschen gelehrt, die Sonnenbahn zu berechnen. Für sie war der Augenblick der Wende, in dem das Tageslicht wieder kürzer wurde, eine Zeit von großer geistiger Bedeutung. Für die Bauern, die ihre Felder im Sommerland bestellten, war die Sommersonnwende eine Gelegenheit, die Götter um Schutz für die Ernte zu bitten und das Vieh vor den Gefahren der zweiten Jahreshälfte zu bewahren. Am Fuß des Tors trieben sie Schafe, Ziegen und Rinder zusammen. Die Tiere blökten und muhten aufgeregt, denn sie mußten durch Rauch und Flammen laufen.
Teleri freute sich, daß sie zusammen mit den anderen Novizinnen bei dem Ritual auf dem Tor singen durfte. Sie hatten sich um ein Feuer versammelt, dessen heilige Flammen im geweihten Ring der Steine brannten.
Sie strich das weiße Gewand glatt und bewunderte die Anmut, mit der Dierna Weihrauch in die Flammen warf. Alles, was die Hohepriesterin tat, geschah mit großer Ruhe und Sicherheit und mit einer natürlichen Würde, die durch lebenslange Übung erworben worden war. Teleri war erst spät in den Dienst der Göttin getreten. Ihr fiel es schwer, daran zu glauben, daß auch sie eines Tages in der Lage sein würde, jede Bewegung zum Teil eines Rituals zu machen.
Unten, wo das Vieh zwischen den Feuern hindurchgetrieben wurde, flehten die Menschen um den Segen der Götter. Oben auf dem Tor erinnerten die heiligen Worte aus alter Zeit daran, daß alle Dinge, auch Licht und Dunkelheit, vergänglich sind. Der volle Mond nimmt ab und wird als silberne Sichel wiedergeboren. Der Kreislauf der Sonne dauert länger, aber in dem Augenblick des längsten Tages beginnt der Abstieg der Sonne.
In der Mitte der Dunkelheit des Winters würde jedoch auch die Sonne wiedergeboren werden.
Was alles , dachte sie ehrfürchtig, muß sich diesem ewigen Gesetz beugen?
Das römische Reich erstreckte sich über die halbe Erde. Oft war es bedroht gewesen, und immer überwanden die Adler alle Krisen und vergrößerten ihre Macht. Würde es in der Zukunft einen Augenblick geben, in dem Rom die Fülle seiner Macht erreichte und der Niedergang begann? Würden die Menschen diesen Augenblick erkennen?
Dierna trat vom Feuer zurück und verneigte sich vor Ceridachos, dem Ältesten der Druiden. Er konnte mit dem Ritual beginnen. Es war der Mittag des längsten Tages, wenn die Macht des Lichts den Höhepunkt erreichte. So war es angemessen und richtig, daß die Priester bei diesem Ritual den Ton angaben. Bei Einbruch der Dunkelheit würden die Priesterinnen die Führung übernehmen. Der alte Mann hob beide Hände. Die weiten Ärmel seines hellen Gewands wehten im Wind.
»Was gab es am Anfang aller Dinge? Versucht es euch vorzustellen! War es eine Leere, ein gähnendes Nichts? Ein fruchtbarer Leib, in dem die Welt heranwuchs?
Stellt es euch vor, wenn ihr könnt: Alles war als Möglichkeit bereits vorhanden, und doch war es nicht so, wie ihr glaubt, denn es war die reine Kraft, es war die LEERE. Es war und es war nicht ... Eine ewige, unveränderliche EINHEIT.«
Er schwieg, Teleri schloß die Augen. Das Unermeßliche ließ sie schwanken. Der alte Druide ergriff wieder das Wort. Seine Stimme hallte über den Platz, denn er sprach die Anrufung.
»Es kam jedoch ein Augenblick der Veränderung ... Eine Schwingung bewegte die Stille ... «
Seine Worte verwandelten sich zu dem heiligen Gesang.
» Aus dem Einatmen wurde ein stummer Laut.
Alles, was er umfaßte, erfaßte Bräutigam und die Braut.
Völlige Dunkelheit und himmlisches Licht,
Raum und Zeit verwirklichen die Sicht.
Gott und Göttin, das heilige Paar, vereinen sich zum Segen.
So können wir das Leben hegen.
Wir, Schwestern und Brüder, rufen die himmlischen Kräfte
Damit steigen und sinken können die Säfte! «
»Wir rufen IHN als Lugos!« riefen die Druiden. »Er ist der Herr des Lichts!« Die jüngeren Druiden begannen zu summen.
»Wir rufen SIE als Rigantona!« erwiderten die Priesterinnen von der anderen Seite des Kreises. »SIE ist die große Königin!« Teleri stimmte mit den anderen Novizinnen den Ton an, der etwas höher war als der der Druiden.
»Wir rufen IHN als Cernunnos!« riefen die Priester. »Er ist der Herr der Tiere!«
»Wir rufen SIE als Arianrhod!« lautete die Antwort. »Sie ist die Herrin des silbernen Rads!« Der Ton der Druiden wurde tiefer, die Jungfrauen dagegen sangen
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