Die Herrin von Avalon
eine zweite Priesterin, die ihre Nachricht empfing, und ohne die rituelle Vorbereitung mit den geweihten Kräutern, die ihre Wahrnehmungsfähigkeit steigerte, unmöglich gewesen, Carausius eine Botschaft zukommen zu lassen.
Sie staunte über sich selbst. Ihre Anteilnahme überstieg das verständliche Interesse an einem Erfolg oder Mißerfolg des Königs. »Nimm die Wolle heraus, sonst wird sie zu dunkel ... « Ildegs Stimme riß sie aus ihren Tagträumen, aber sie fand nur langsam in die Gegenwart zurück. Sie hob den Strang aus dem Kessel und trug die dampfende Wolle zur Weide. Lina machte sich auf den Weg, um Nachschub zu bringen.
Dierna holte tief Luft, bevor sie den nächsten Strang in den Kessel tauchte, denn die starken Gerüche der Färberlauge verursachten ihr ein leichtes Schwindelgefühl. Aber dann verschwand die Wolle wieder in der tiefblauen See.
Ein Blatt segelte durch die Luft und landete im Kessel. Die Hohepriesterin wollte es gerade mit der Schöpfkelle herausnehmen, als sie plötzlich leise aufschrie. Das war kein Blatt, sondern ein Schiff, und es war nicht allein, sondern umgeben von vielen anderen, die im wirbelnden Dampf auftauchten und verschwanden. Dierna umklammerte den Kesselrand, ohne zu bemerken, daß die Hitze ihr die Hände verbrannte, und beugte sich vor, um besser zu sehen.
Wie eine Möwe kreiste sie über dem Schlachtgetümmel unter ihr. Sie sah deutlich die Orion und erkannte auch andere Schiffe. Ihre Schnelligkeit und Wendigkeit hätten Dierna aber ohnehin verraten, daß sie zur britonischen Flotte gehörten. Andere, größere und schwerfälligere, mußten Schiffe der Römer sein. Im Hintergrund befand sich eine lange Landzunge, und bei genauerem Hinsehen erkannte Dierna, daß der Kampf in einem großen Hafen stattfand. Unter solchen Bedingungen verschafften die hervorragenden Navigationskünste der Britonen ihnen wenig Vorteile. Hatte sich Carausius in eine Falle locken lassen? Als er Maximians armorikanische Flotte vernichtend geschlagen hatte, war die Schlacht eine Herausforderung seemännischer Fähigkeiten gewesen. Diesmal gelang es einem römischen Schiff nach dem anderen, die Schiffe der Britonen zu entern. Es war deutlich, daß das Schwert und nicht das Können auf See diesen Kampf entscheiden würde.
Flieh! Du kannst hier nicht gewinnen. Du mußt auf das offene Meer hinaus!
Der Ruf kam aus ihrem Herzen. Dierna beugte sich tief über das Wasser und sah flüchtig Carausius mit einem blutigen Schwert in der Hand. Er hob den Kopf. Konnte er sie sehen? Hatte er ihre Worte gehört?
Eine Welle schob sich vor ihre Augen. Das Wasser wurde blutrot! Sie mußte aufgeschrien haben, denn im nächsten Augenblick hörte sie Stimmen. Man rief ihren Namen. Sie nahm alles aus weiter Ferne wahr. Aber dann zogen sie sanfte Hände ins Gras.
»Das Wasser ist rot ... « flüsterte sie, am ganzen Leibe zitternd. »Im Wasser ist Blut!«
»Nein, Herrin«, erwiderte Lina, »die Färberlauge ist blau. Herrin, sieh dir deine Hände an!«
Dierna stöhnte, als sie plötzlich die Schmerzen spürte. Die anderen Priesterinnen eilten besorgt herbei.
In der allgemeinen Aufregung und im Bemühen, ihr zu helfen, fragte niemand danach, was Dierna gesehen hatte.
Am nächsten Morgen ließ die Hohepriesterin Adwen rufen. Sie sollte packen und Lewal und einem der jungen Druiden Bescheid geben, daß die Hohepriesterin ihre Begleitung wünschte. Auch das kleine Volk mußte davon in Kenntnis gesetzt werden, daß die Herrin von Avalon die Insel verlassen würde.
Dierna schien zu dieser Reise so entschlossen, daß keiner wagte, sie nach den Gründen zu fragen. Sie hätte es auch nicht verantworten können, über ihre Vision zu sprechen. Wenn Carausius von den Römern geschlagen worden war, würde er oder die Nachricht von seinem Tod zuerst Dubris erreichen. Deshalb mußte sie dorthin. Wenn er nicht getötet worden war, brauchte er ihre Hilfe. So oder so, sie wollte die Wahrheit wissen.
Ein Woche lang ritt der kleine Trupp durch das Sommerland. Bei ihrer Ankunft in Venta Belgarum waren Diernas Hände abgeheilt, aber ihre Sorgen wurden nicht geringer. Schlechte Nachrichten verbreiten sich in Windeseile, und der ganze Westen wußte, daß in Gesoriacum eine große Seeschlacht stattgefunden hatte. Carausius war es gelungen, mit seinem Flaggschiff zu fliehen, aber nur wenige britonische Schiffe hatten ihm folgen können. Die Flotte, die Sachsen und Römer einst das Fürchten gelehrt hatte, gab es nicht mehr. Mit
Weitere Kostenlose Bücher