Die Herrin von Avalon
einem Schmetterling her.
Als Viviane die Locken betrachtete, auf denen die Sonne glänzte, kannte ihre Bewunderung keine Grenzen.
Was für eine Schönheit das Kind einmal werden wird!
»Nein, mein Schatz!« rief sie, als Igraine plötzlich auf die Brombeerhecke zusteuerte. »Diese Blumen mögen es nicht, gepflückt zu werden!«
Es war zu spät. Igraine hatte bereits nach den blühenden Ranken gegriffen, und aus den Kratzern in ihrer Hand quollen kleine rote Punkte.
»Komm her, Liebling, haben dich die bösen Blumen gestochen? Du mußt vorsichtig sein. So, ich geb dir einen Kuß darauf, und dann ist alles wieder gut!« Das Wehgeschrei ließ nach, als Viviane ihre kleine Schwester in den Armen wiegte.
Bedauerlicherweise war Igraines Lunge ebenso gut entwickelt wie alles andere an ihr, und scheinbar jeder in Hörweite, und das waren beinahe alle auf Avalon, eilte zu ihrer Rettung herbei. »Es ist nur ein Kratzer«, wollte Viviane beschwichtigen. Aber unter den ersten, die erschienen, befand sich ihre Mutter. Bei dem zornigen Blick, den sie ihr zuwarf, kam sich Viviane trotz des blauen Halbmonds auf der Stirn wie eine blutjunge Novizin vor.
»Ich dachte, ich könnte mich darauf verlassen, daß du gut auf sie aufpaßt!«
»Es ist nichts passiert!« rief Viviane. »Die Dinge, die ihr nicht wirklich schaden, werden dazu beitragen, daß sie Vorsicht und Behutsamkeit lernt. Du kannst sie nicht in alle Ewigkeit in Daunen hüllen!«
Ana streckte die Arme aus, und Viviane ließ ihre kleine Schwester widerstrebend los.
»Du kannst deine Kinder erziehen wie du willst, wenn du erst einmal welche hast. Aber sag mir nicht, wie ich meine erziehen soll!« fauchte Ana über die Schulter, als sie Igraine davontrug.
Wenn du eine so gute Mutter bist, wie kommt es dann, daß die zwei Töchter, die du aufgezogen hast, tot sind und nur die noch lebt, die du Zieheltern gegeben hast?
Viviane war vor Verlegenheit über und über rot geworden, denn nicht wenige Zuschauer erlebten den heftigen Wortwechsel zwischen Mutter und Tochter. Trotzdem schluckte Viviane eine Antwort hinunter. Sie war nicht zornig genug, um das eine zu sagen, von dem sie wußte, daß ihre Mutter es ihr nie verzeihen würde, weil es vielleicht tatsächlich der Wahrheit entsprach.
Sie klopfte sich den Staub aus dem Rock und sah Aelia und Silvia, zwei der jüngsten Novizinnen, streng an.
»Ist das Schaffell, das ihr abgeschabt habt, auch völlig sauber? Dann kommt!« fuhr sie fort, denn sie las die Antwort in den Augen. »Die abgezogene Haut riecht nicht besser, wenn sie noch länger liegt, und wir müssen sie schaben und dann einsalzen.«
Viviane ging mit den beiden Mädchen im Schlepptau den Hügel hinunter in Richtung Gerbschuppen. Er stand weit von allen anderen Gebäuden entfernt auf der dem Wind abgekehrten Seite. In Augenblicken wie diesem fragte sie sich, weshalb sie hatte Priesterin werden wollen. An ihrer Arbeit hatte sich nichts geändert. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sie jetzt mehr Verantwortung trug.
Als sie in der Nähe des Ufers waren, sahen sie, wie ein Nachen des kleinen Volkes schnell durch das Wasser gestakt wurde.
»Es ist Heron!« rief Aelia. »Was er wohl will? Er scheint es furchtbar eilig zu haben.«
Viviane blieb wie angewurzelt stehen. Sie dachte an den Überfall der Sachsen. Aber das konnte es nicht sein. Vortimer hatte vor zwei Jahren Hengist noch einmal nach Tanatus zurückgetrieben.
Die beiden Mädchen rannten bereits zum Ufer. Sie folgte ihnen langsam.
»Herrin!«
Trotz aller Eile begrüßte Heron sie mit der förmlichen Anrede. Seit sie durch ihr Erscheinen mit dem Gral das kleine Volk gerettet hatte, erwies man ihr ebenso große Achtung wie der Herrin von Avalon. Es war Viviane nicht gelungen, sie wieder davon abzubringen.
»Was gibt es, Heron? Ist dein Dorf in Gefahr?«
»Nein, nicht wir!« Er richtete sich auf. »Der gute Priester ... der freundliche alte Mann ... Sie nehmen ihn mit!«
»Jemand bringt Vater Fortunatus weg?« fragte Viviane stirnrunzelnd. »Wieso?«
»Sie sagen, er hat schlechte Ansichten, die ihrem Gott nicht gefallen!« Er schüttelte den Kopf. Offenbar verstand er das Problem nicht.
Viviane war ebenso verwirrt wie er, obwohl sie sich daran erinnerte, daß Vater Fortunatus gesagt hatte, für manche Christen seien seine Ansichten Gotteslästerung.
»Komm mit, Herrin! Sie hören auf dich!«
Viviane bezweifelte das. Sein Vertrauen war rührend. Einem Trupp Sachsen so große Angst
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