Die Herrin von Rosecliffe
dem Wachturm erspähte ihn und hob grüßend die Hand, signalisierte jedoch nicht dass irgendetwas Außergewöhnliches geschehen war. Rhys holte erleichtert Luft, gönnte seinem müden Pferd eine kurze Verschnaufpause, saß ruhig im Sattel und blickte zu seiner Festung empor.
Sein Zuhause ... Seltsam, dass er eine so starke Bindung an den Ort verspürte, den er fast sein ganzes Leben lang gehasst hatte! Aber während des vergangenen Jahres hatten seine Empfindungen sich in so vieler Hinsicht verändert ... Und das alles nur, weil Isolde ihn liebte.
Isolde hatte in ihm etwas Liebenswertes entdeckt. Was aber noch erstaunlicher war - sie hatte ihn gezwungen, in die Tiefen seines eigenen Herzens zu blicken und dort die Fähigkeit zur Liebe zu entdecken. Manchmal erschreckte es ihn fast, wie verzweifelt er sie liebte.
Und jetzt würde sie aus Liebe zu ihm die Schmerzen einer Entbindung erdulden müssen! Wieder stiegen Ängste in ihm auf: so viele Frauen starben im Kindbett!
Rhys beugte sich im Sattel vor und hetzte sein Pferd die Straße zur Burg hinauf. Er musste sich vergewissern, dass es ihr gut ging ...
Newlin beobachtete lächelnd Rhys' wilden Galopp. An dem Turm steckt Magie«, sagte er zu Tilly, die neben ihm auf dem domen saß und die letzten warmen Sonnenstrahlen genoss.
»Magie?«, fragte Tilly. »Kommt das Baby heute Nacht zur Welt?«
»Ich glaube - ja.« Er tätschelte ihre Hand.
»Wenn wir gerade von Babys sprechen - ich habe von einem Kind gehört, das in Afon Bryn geboren. wurde. Sein Gesicht ist missgebildet, und es hat einen Klumpfuß. Die Dörfler glauben, ein Fluch liege auf ihm, doch das stimmt natürlich nicht. Es ist nur sehr klein und hilflos.«
»Und du würdest es gern aufziehen?«
»Ja.«
Lächelnd tätschelte Newlin wieder ihre Hand. »Das Ende des Winters ist nahe«, murmelte er zufrieden.
Vieles deutete schon auf den kommenden Frühling hin: sprießende Knospen, längere und wärmere Tage, die Paarungsrituale der Spitzenten ... In der Burg würde bald ein Kind getauft werden -und Tilly würde in seiner bescheidenen Behausung ein verkrüppeltes Kind aufziehen ... Er dachte an das alte walisische Wiegenlied, dessen drei Prophezeiungen in Erfüllung gegangen waren. In gewisser Weise traf es vielleicht zu, dass Cymry an jenem Tag gefallen war, als Rhys ap Owain seinen erbitterten Kampf gegen die Engländer endgültig aufgegeben hatte. Doch es war eine segensreiche Entscheidung gewesen - die Menschen in diesem Landstrich brauchten sich nicht mehr vor Krieg und Not zu fürchten und konnten in Frieden leben, Waliser und Engländer Seite an Seite. Segensreich aber auch für Rhys selbst der seinen Hass bezwungen und die Liebe entdeckt hatte. Sogar der Wunschtraum des glühenden jungen Patrioten, ein Waliser müsse der Herr von Rosecliffe~ sein, war in Erfüllung gegangen und das ohne Blutvergießen.
Newlin wiegte sich langsam vor und zurück. Er war glücklich ...
In tiefer Nacht drehte der Herr von Rosecliffe unzählige Runden auf dem schmalen Wehrgang des renovierten Turmes. 'Er schwitzte trotz eines kalten Windes, denn Isolde quälte sich nun schon seit Stunden, um ihr gemeinsames Kind zur Welt zu bringen, und er konnte es kaum ertragen, sie so leiden zu sehen.
Unwillkürlich dachte er an die harten Worte, die sie an jenem Tag gesagt hatte, als er fest entschlossen gewesen war, ihren Onkel zu töten. ja, sie hatte Recht gehabt: es war wirklich viel einfacher zu kämpfen als zu lieben. Denn jetzt brach ihm bei jedem Schmerzensschrei, den sie ausstieß, fast das Herz.
Dann hörte er endlich ein anderes Geräusch: den ersten schrillen Schrei eines Neugeborenen! Doch nach der ersten Erleichterung wurde Rhys von neuen Ängsten heimgesucht. Was, wenn Isolde gestorben war, während sie ihrem Kind das Leben schenkte?
»Rhys?«, rief eine schwache Stimme. Ihre Stimme! »Rhys, komm und schau dir deinen Sohn an!«
Freudentränen liefen ihm über die Wangen, und Rhys schämte sich dieser Tränen nicht, während er zu seiner Liebsten und seinem Sohn eilte.
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