Die Herrin von Sainte Claire
kleine Einäugige George – Ihr wißt schon, der Junge, der Maudie in der Küche aushilft – kam diesen Nachmittag zu uns. Er erzählte, der Feind sei in der Burg empfangen worden und parliere nun mit Lady Joanna und Sir Oliver. Den Kriegern und dem Gesinde wurde anbefohlen, diesen Burschen als ihren neuen Herrn anzuerkennen.«
Alaine war wie vom Donner gerührt. Sie begriff einfach nicht, wie Joanna und Oliver ihr so etwas hatten antun können! Die Burg hätte mindestens einen Monat standgehalten, ohne daß auch irgend jemand Not gelitten hätte.
»Georgie erzählte, es sei niemand verletzt«, fuhr Garin bedrückt fort, »und es gab nicht einmal einen Kampf.«
»Hat er herausfinden können, wie der Name dieses … dieses Herrn lautet?« Der Ton ihrer Stimme klang gallbitter.
»Nein«, seufzte Garin. »Er bekommt nur das mit, was sich das Gesinde erzählt. Und da geht es meist nicht um Einzelheiten.«
Sie setzte ihre Schüssel ab. Der Appetit war ihr nun vollkommen vergangen. Seufzend legte sie ihren Kopf in die Hände. Sie konnte die Tränen kaum zurückhalten, aber sie würde vor niemanden, auch nicht vor ihrem geliebten Garin, dieser weiblichen Schwäche nachgeben. Sie wußte einfach nicht, was sie sagen sollte, und vor Übermüdung konnte sie keinen Plan fassen.
Auf einmal spürte sie Garins Hand auf ihrer Schulter, die mit sanftem Druck zu trösten versuchte.
»Ich weine nicht!« beteuerte sie hastig.
»Natürlich nicht.«
»Warum hat Joanna aufgegeben?« jammerte sie, und ihre Stimme versagte ihr beinahe.
»Sie wird einen guten Grund dafür gehabt haben.« Garin überlegte kurz, wie sie wohl seinen folgenden Ratschlag aufnehmen würde. »Warum fragen wir sie nicht selbst?«
»Wie bitte?«
»Das ist der einzig vernünftige Weg. Was nützt es zu kämpfen? Die Burg ist erobert. Was bleibt uns übrig, als uns der Gnade dieses neuen Herrn zu überlassen?«
Alaine sprang blitzschnell auf die Beine und schüttelte seine Hand von ihr ab. »Angekrochen kommen und um Gnade winseln? Obwohl wir noch frei sind? Ihr könnt aufgegeben, wenn es Euch beliebt, Garin, oder Euch zur Festung Eures Bruders aufmachen. Ich kann Euch zu keinerlei Dienste zwingen. Und die Gefolgsleute können ihre eigenen Wege gehen, aber was mich betrifft!« Sie würgte die bitteren Tränen herunter. »Was mich betrifft … ich … ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Aber ich werde nicht aufgeben. Ste. Claire gehört mir! Niemals werde ich die Knie vor einem Usurpator beugen.«
Alaine drehte sich auf den Fersen um und verschwand, ohne seine Antwort abzuwarten. Sie suchte nach einer halbwegs trockenen Stelle unter einem Baum, die nahe genug an der wärmenden Feuerstelle lag, aber außer Reichweite des qualmendes Rauchs. Den immer noch klammen Mantel zog sie eng um sich, rollte sich zusammen auf ihrer feuchten Lagerstätte aus Laub und ließ stillschweigend endlich ihren verzweifelten Tränen freien Lauf.
Alaine erwachte inmitten lautloser Dunkelheit. Nur hie und da unterbrach ein Ächzen der schlafenden Männer die vollkommene Stille. Ihre Augen brannten vom beißendem Rauch des Holzfeuers, der immer noch aus der Asche aufstieg, und ihre Nase war verstopft vom Weinen.
Sie stützte sich auf einem Arm auf und suchte am östlichen Himmel nach einem Anzeichen von Licht. Nichts war zu sehen. Ihre Begleiter lagen noch alle in tiefem Schlaf. Schnarchlaute und schwere Atemzüge drangen aus den eingemummelten Bündeln, die im Kreis um das verglimmende Feuer lagen. Sie streckte sich wieder auf dem Boden aus und zog ihren Mantel noch fester um sich.
In die Dunkelheit starrend, fühlte sie wieder ein Gefühl der Verzweiflung in sich hochsteigen. Ihre Gefolgsmänner konnten sich in alle Winde verstreuen und sich einen anderen Lehnsherrn suchen. Garin hatte die Möglichkeit, auf die Burg seines Bruders zurückkehren. Aber was blieb ihr übrig? Ihr ganzes Leben lang war sie dazu erzogen worden, Herrin von Ste. Claire zu sein und über die Burg und seine Dörfer zu walten. Das Land und seine Leute gaben ihrem Leben ein Ziel und einen Sinn. Sie kannte nichts anderes. Ohne Ste. Claire war sie ein Nichts und könnte ebensogut tot sein.
Eine Träne kullerte ihre Wange hinab und fiel auf den modrigen Blätterhaufen, auf den ihr Haupt gebettet lag. Sie fuhr mit dem Handrücken über ihre Wange und verschmierte ihr Gesicht mit Erde. Weitere Tränen quollen hervor. Schnüffelnd setzte sie sich auf. Sie war wütend auf sich selbst. Heftig
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