Die Herrin von Sainte Claire
ein wenigen Monaten zum Ritter geschlagen.«
»Das stimmt«, erwiderte Garin schlicht. Sir Geoffreys Tod hatte Garin der Hoffnung beraubt, in nächster Zukunft Waffen und Sporen zu erhalten. Sein Vater war vor wenigen Monaten gestorben. Sein älterer Bruder, ein Mann, der nie ein freigebiges Herz besessen hatte, wäre gewiß nicht erpicht darauf, Garin in den Ritterstand zu heben und ihm damit ein Anrecht auf sein kleines Erbteil zu verleihen.
»Vielleicht« – sie zögerte aus Angst, ihren Freund zu verletzen, aber auch aus Sorge, er könnte seine Zukunft aus Treue zu ihr verspielen – »solltet Ihr nach unserer Rückkehr von Brix Eurem Bruder einen Besuch abstatten. Wenn er Euch von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, wird er sich kaum weigern können, Euch zum Ritter zu schlagen, wie Ihr es verdienst.«
»Das mag schon sein«, stimmte ihr Garin gleichgültig zu.
»Also solltet Ihr Euch auf den Weg machen.«
Garin blickte sie fest an. »Ich werde Euch niemals verlassen, Alaine. Ihr seid mir wie eine Schwester und der treueste Freund, den ich je gehabt habe. Euch jetzt im Stich zu lassen, wenn die Meute nach Euch schnappt, würde jedes Ehrgefühl in mir verleugnen, das mich Euer Vater gelehrt hat.«
»Niemand würde je an Eurer Ehre zweifeln, Garin. Und ich empfinde große Dankbarkeit für Eure Treue. Aber vielleicht ist Ste. Claire eine verlorene Sache.« Sie senkte die Augen und gab zum ersten Mal die Möglichkeit einer Niederlage zu.
Er aber lächelte sie mit sanftem Spott an und hieb ihr zart mit der geballten Faust auf die Schulter. »Jetzt sprecht Ihr ja wie ein Frauenzimmer!«
Ihre Augen funkelten leicht entrüstet. Dann mußte sie lachen.
Der nicht endenwollende Nachmittag schleppte sich dahin. Einmal schritt Alaine auf und ab, dann verharrte sie wieder am Fenster, um den Fortgang des Kampfes zu beobachten.
Gilberts Gefolgsmänner leisteten mehr Widerstand als es Alaine für möglich gehalten hatte. Ehe das feindliche Heer sie bestürmte, war es ihnen gelungen, eine Seite des zertrümmerten Tores wieder aufzurichten und nur eine kleine Öffnung zu lassen, durch die sich die Eindringlinge zwängen mußten und somit eine leichte Zielscheibe für die Bogenschützen und Pikeniere abgaben. Soweit Alaine feststellen konnte, war die Zahl der Toten seitens der Gegner gering. Dagegen mußten viele von Gilberts Mannen ihr Leben auf den Mauern lassen. Sie war froh, die Gefolgsmänner von Ste. Claire vor diesem Blutbad in Sicherheit gebracht zu haben. Die Sonne näherte sich den Bergen im Westen und überzog den Himmel mit einem rötlichen Glanz. Bald würden sich die Schatten über das Tal von Ste. Claire breiten. Alaine wußte, daß Gilbert sich zu einem letzten Widerstand gegen den Feind aufraffte. Seine Mannen hatten in diesem Kampf bittere Verluste erleiden müssen, und entgegen seiner Absicht hatte er so lange ausgeharrt, bis sie im Schutz der Dunkelheit entschwinden konnte. Sie stand am Fenster und warf einen letzten Blick auf ihr geliebtes Zuhause – den Fluß, den brachliegenden Feldern, den Obstgarten, in dem ihr Vater begraben lag. Eben als sie den Entschluß gefaßt hatte, daß es an der Zeit wäre zu gehen, fiel ein feuriger Lichtstrahl der untergehenden Sonne auf den Schild eines der Gestalten unten. Der aufgebäumte, rote Drachen schien wie zum Leben erwacht und sein gleißendes Funkeln schmerzte ihr in den Augen. Die Beschreibung des Wappens kam ihr wieder in Sinn, die diesem Heer vorangetragen wurde. Dies war also der Mann, der sein Anführer war. Aus der Ferne erkannte sie nur wenig, außer daß er groß war – sehr groß sogar und sein Breitschwert noch immer mit unermüdlicher Kraft schwang, trotz der vorangeschrittenen Tageszeit. Warum wohl war er nach Ste. Claire gekommen?
»Ihr werdet Eure Überraschung haben, Herr Drache«, murmelte sie. »Ihr mögt ein fettes Lamm als Eure Beute wähnen. Ich aber habe gelernt, mit den Wölfen zu heulen. Wohlan denn.«
Fünfzehn Mann und zehn Pferde versammelten sich lautlos vor der Geheimpforte. Bald würden ihnen Gilbert mit seinen restlichen Kriegern durch die Pforte folgen, vorausgesetzt sie fänden das Versteck.
Nach der Reihe traten die Männer und die Pferde in großer Hast durch die Pforte, sie stolperten, fielen und rutschten die steile Böschung hinunter zum Fluß. Den Fluß zu überqueren war ein gewagtes Unternehmen. Trieb es einen Mann oder ein Pferd etwas flußabwärts an die Stelle, wo der kleinere und schnellere Fluß Reve mit
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