Die Herrin von Sainte Claire
hinweggerafft hat.«
Alaine faßte den Entschluß, im Laufe der Woche mit Essen und Kleidern zurückzukommen. Nun erinnerte sie sich, daß es ihr gar nicht mehr möglich war, Mildtätigkeit zu üben. Sie biß sich auf die Lippen und folgte Ruth aus der Hütte hinaus.
»Wartet, Herrin!« Ruth erhob warnend Hand. »Reiter nähern sich!«
Hastig duckte sich Alaine wieder durch die Hüttentür.
»Wer ist es?«
»Fünf Ritter zu Pferd«, antwortete ihr Ruth. »Ich kann nicht genau sehen …!« Ihre alten Augen blinzelten in die Ferne. »Der Schild des einen trägt einen roten Drachen darauf. Kennt Ihr das Wappen, Herrin?«
»O mein Gott!« hauchte Alaine. »Der Drache persönlich. Und ich sitze hier wie die Maus in der Falle!«
Sie lauschte dem Hufschlag der schweren Streitrösser, als die Reiter am anderen Ende des Dorfes langsam zum Stehen kamen. Oder war dies das Dröhnen ihres eigenen wildpochenden Herzens? Auch wenn die Reiter sie nicht entdeckten, gewiß aber bemerkten sie ihr Pferd, das für jedermann sichtbar neben der Hütte friedlich graste. Sie hob die Augen gen Himmel in einem stummen, verzweifelten Gebet. So endete die alles andere als ruhmreiche Rebellion von Alaine, der Herrin auf Ste. Claire.
5
»Geschwind! Geschwind!« Die alte Ruth packte Alaine am Arm und wollte sie wieder in die Hütte zerren. »Toby führt die Ritter hinunter zur Weide, wo man einen Knaben getötet hat. Bringt das Tier in die Hütte, solange sie fort sind.«
»Wo ist der Stall?« Alaine blickte sich suchend um, während sie die Zügel des aufgeschreckten Pferdes ergriff.
»Da ist kein Stall. Und wir haben keine Zeit. So manche Kuh hat schon in dieser Hütte Schutz vor Unwetter gefunden, als diese armen Leute noch eine Kuh besaßen. Das Tier wird sich hier schon wie zu Hause fühlen.«
Alaines Reitpferd war jedoch etwas größer als eine Kuh. Es gelang ihnen erst das Tier durch die Tür zu pferchen, als Alaine von vorne zog und Ruth von hinten anschob. Welch Heiliger auch immer an diesem Tag für Wunder zuständig war, er hatte gute Arbeit geleistet, denn kaum war das Pferd durch die winzige Tür passiert, als Toby mit seinen Gästen ins Dorf zurückkehrte. Das alte Mütterchen kreischte empört auf, als das breite Hinterteil des Pferdes bedrohlich vor ihrem Sitzplatz hin und her schaukelte.
»Ruhe, Mattie!« zischte Ruth sie an. »Dieser schreckliche Ritter kommt direkt auf uns zu. Willst du, daß man unsere teure Herrin schnappt und an die nächste Eiche knüpft?«
Bei dieser Vorstellung mußte Alaine schwer schlucken. Halb wünschte sie sich, sie wäre in der kurzen Abwesenheit von Drache auf und davongelaufen. Aber die Zeit war zu knapp gewesen.
»Wohin hat Toby sie geführt?« flüsterte sie zu Ruth.
»Unten zur Weide. Eine Bande Geächteter hat diesen armen Schluckern das letzte Schaf vertrieben. Und bei dieser Gelegenheit gleich den kleinen Schäferjungen getötet.«
Das war wohl der Grund, weshalb Drache hergekommen war, überlegte Alaine. Oder vielleicht doch nicht? Irgendwie kränkte es sie, daß dieser gemeine Lump, der ihr das Zuhause geraubt hatte, Anteil am Wohlergehen der Dorfbewohner nehmen sollte, die sie immer als ihre Untertanen angesehen hatte.
»Still jetzt«, ermahnte sie Ruth. »Sie kommen in unsere Richtung.« Sie verließ das Fenster und ging zur Lagerstätte, um sich neben die trauernde Mutter niederzulassen, die mit ängstlichem Staunen auf das plötzliche Gedränge in ihrer engen Hütte reagierte.
Alaine drückte das Maul ihres Pferdes fest zu. Dann wandte sie sich zur Fensterluke, das mit Schweinshäuten zugehangen war, um durch eine winzige Öffnung zwischen den Schweinshäuten und der Lehmwand zu lugen. Der Reitertrupp hielt beinahe geradewegs vor der Hütte. Toby deutete mit dem Finger auf den Pfad, auf dem die Geächteten davongejagt waren. Sie waren so nahe, daß Alaine sogar die finstere Miene und das harte Glitzern in den Augen Draches feststellen konnte. Er war eine beeindruckende Erscheinung, das mußte sie sich widerwillig eingestehen. Auf dem Rücken seines feurigen braunen Streitrosses wirkte er groß, stolz und unbeugsam. Sein Kettenhemd glitzerte im schwachen Herbstlicht. Kettenhaube und Halsberge hatte er abgestreift, und der Helm war unter seinen Arm geklemmt. Ein zerzauster Schopf aus kurzgeschnittenen, rabenschwarzen Haaren krönte sein Haupt. Quer über den Rücken mit griffbereitem Heft, hing das riesige Breitschwert, das sie ihn mit so entsetzlicher Wirkung vor den
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