Die Herrin von Sainte Claire
kleinen Schar. Sie konnte Drache sehr wohl so auf Trab halten, daß er die Dorfleute in Ruhe ließe. Dennoch mußte sie sich eingestehen, daß unbewaffnete Bauern und Leibeigene kein Ersatz für Ritter und ausgebildete Kämpfer darstellten. Was sie aber am dringendsten erwartete, war noch nicht eingetroffen. Ihr Botenläufer, den sie in die Nähe von Brix postiert hatte, um nach Fulks Rückkehr Ausschau zu halten, hatte ihr immer noch keine Nachricht überbracht.
An einem klaren, frischen Nachmittag ritt Alaine in das kleine Dorf Briaux, um den Menschen dort – den einzigen, zu denen sie noch nicht gesprochen hatte – Mut zu machen. Ihre Gefolgsleute trieben die Dorfbewohner aus den Hütten. Als die Menschen ihr Gesicht erkannten, ging ein Murmeln durch ihre Reihen, und sie verneigten sich tief. In knappen Worten erklärten sie nun der versammelten Menge ihr Anliegen.
Der alte einarmige Toby, der selbsternannte Anführer des Dorfes, kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Dieser Teufel bekommt keinen Brosamen von uns, Mylady. Wir haben nichts zu verschenken. Seit uns der Hunger plagt und die Felder nicht mehr als ein paar Körner hergeben, hat Euer lieber Herr Vater nichts von uns genommen. Und dieser Herr wird kein Fitzelchen mehr bekommen.«
Alaine lächelte. Mehr konnte sie nicht von ihnen verlangen, aber vielleicht mehr geben. »Du bist treu und brav, Toby. Das trifft auf euch alle zu. Als Gegenleistung erhaltet ihr die Erlaubnis, soviel ihr braucht vom Wild und den Wildschweinen im Wald zu jagen.«
Den Sklaven und Leibeigenen war zwar die Jagd auf die Tiere des Waldes, die zum Besitz ihres Herrn gehörten, bei Todesstrafe verboten. Doch Alaine war bekannt, daß Toby und seine Leute, um nicht Hungers zu sterben, schon seit geraumer Zeit wilderten. Vielleicht würde es die Leute für ihre Sache einnehmen, wenn sie ihnen die Erlaubnis zur Jagd gab.
Toby schaute verschmitzt drein. »Das wäre sehr gütig von Euch, Mylady.«
Alaine schmunzelte. Sie verstanden einander.
»Sind wir hier fertig?« fragte Garin und kam mit seinem Pferd neben ihr zum Stehen.
»Reitet Ihr mit den Gefolgsmännern weiter«, antwortete sie ihm. »Ich will kurz Ruth guten Tag sagen.«
»Haltet Euch nicht allzulange auf«, warnte er sie. »Wir reiten die Straße langsam hinunter, bis Ihr uns eingeholt habt.«
Garin verzog das Gesicht zu einer Grimasse, dann sprengte er in Begleitung der Männer auf seinem Pferd aus dem Dorf hinaus. Es behagte ihm ganz und gar nicht, Alaine alleine zurückzulassen, aber man konnte diesem starrsinnigen Mädchen nicht vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Und Ruth zählte zu ihren besten Freundinnen, auch wenn es Garin schier unbegreiflich schien, weshalb ein edles Fräulein einer gewöhnlichen Hebamme überhaupt Beachtung schenkte.
Ruth war die beste Hebamme weit und breit. Mit ihrem Wissen und Können half sie in den Dörfern wie auf der Burg. Einige Leute nannten sie eine Hexe. Garin war durchaus bereit, dem Glauben zu schenken. Noch nie war ihm ein häßlicheres Gesicht begegnet. Der funkelnde Blick der alten Frau erinnerten ihn an eine Schlange. Alaine hatte der Alten bei vielen Geburten zugesehen, und in ihren Augen war sie eine weise Frau. Nun, da sie Ruths Maulesel festgebunden vor der Hütte am Dorfeingang entdeckt hatte, war es für sie selbstverständlich, der alten Frau guten Tag zu sagen.
Alaine duckte sich und trat durch die Hüttentür. Ruth registrierte ihr Kommen mit einem gelassenen Kopfnicken. Ein altes Mütterchen erhob sich auf wackligen Füßen von einem niedrigen Schemel neben dem Ofen – dem einzigen Möbelstück in dem dunklen, übelriechenden Raum – und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Alaine schüttelte lächelnd den Kopf und forderte die alte Frau mit einer Handbewegung dazu auf, sich wieder zu setzen.
»Geht alles gut?« erkundigte sich Alaine bei Ruth, die die Hände an ihrem blutbespritzten Rock abstreifte.
Die Hebamme schüttelte den Kopf und kräuselte ihren ohnehin schon runzligen Mund. »Nein. Das Kleine ist tot. Das ist auch besser so, Mylady. Diese armen Leute haben schon genügend Mäuler zu stopfen.«
Eine junge Frau lag im entfernten Winkel des Raumes auf ein Strohlager gebettet. Sie hatte ihr Gesicht abgewandt, doch Alaine sah trotzdem, wie sich ihre Brust in stummem Schluchzen angestrengt hob und senkte.
»Ihr Mann ist vor einiger Zeit gestorben«, erklärte Ruth. »Die Lungenkrankheit. Dieselbe Krankheit, die auch Euren guten Herrn Vater
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