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Die Herrlichkeit des Lebens

Die Herrlichkeit des Lebens

Titel: Die Herrlichkeit des Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kumpfmüller
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wollte wissen, wie viel er wiege, ob er nachts huste, ob er Temperatur habe, was der Doktor mehr oder weniger wahrheitsgemäß verneinte. Er fühle sich schwach, deshalb liege er viel, oft bis zum Mittag und dann noch einmal den halben Nachmittag, er lese, versuche zu schlafen, gehe zur Post, dann wieder Bett, die Essversuche, Schreiben so gut wie gar nicht, kurz: Er tue sein Bestes. Von Berlin habe er ja schon geschrieben, von der Kolonie, denn seit er die Kolonie kennt, ist der Doktor nicht mehr derselbe.
    Ich habe jemanden kennengelernt, sagt er. Eine Frau aus dem Osten. Dora. Er habe ihr auf der Stelle vertraut, sie sei sehr jung, sehr jüdisch, alles komme von weit her bei ihr, er setze seine ganze Hoffnung auf sie, denn sie lebe in Berlin. Sobald ich bei Kräften bin, gehe ich zu ihr nach Berlin. So sagt er es. Es klingt verrückt, mutmaßt er. Findest du, ich bin verrückt? Es ist wie ein Wunder. Insbesondere der Freund hat an solche Wunder immer geglaubt, für Max besteht das halbe Leben aus Wundern, und der Einzige, der sie bezweifelt hat, war der Doktor.
    So also steht es um ihn. Was sagst du dazu? Max kann nur sagen, wie sehr er sich freut, für niemand freut esihn so sehr wie für den Doktor. Wie um es zu beweisen, umarmt er ihn. Er möchte wissen, ob er ein Foto von ihr hat, er hofft, dass er sie bald kennenlernt. Der Doktor sagt: Ich habe nicht gewusst, dass es ein Wesen wie sie überhaupt gibt. Sie sei sehr zart, falls das etwas über sie sage, rede fließend Jiddisch und Hebräisch. Ich wiege 59 Kilo, sagt er. Max, sagt er. Kann ich mit 59 Kilo nach Berlin? Das kann er natürlich nicht. Er muss Geduld haben. Berlin läuft ihm nicht davon, rät der Freund. Die Stadt ist wie im Fieber, sagt Max, weil seine Emmy ihm das berichtet, das Ärgste stehe dort wohl erst noch bevor.
    Er liest ihren Brief im Stehen am Fenster, erleichtert, dass sie nicht böse ist, tatsächlich wird das Geld praktisch nicht erwähnt. Sie ist am Strand. Fast meint er sie zu sehen, wie sie da sitzt und schreibt, als wäre er selbst nicht weit. Alles ist nah und vertraut. Wenn sie schreibt, an der Landungsbrücke lege gerade ein Dampfer an, weiß er sofort die Szene, allerlei Damen mit bunten Schirmen am Arm ihrer geschäftigen Gatten, vorneweg die herausgeputzten Kinder, der eine oder andere Hund, eine streng gekleidete Gouvernante, ein lustiges Fräulein. Das meiste hat er vor sich: den milchigen Horizont, den welligen Schaum am Strand, obwohl sich manches schon verflüchtigt, am frühen Morgen der Geruch des Wassers, die Farben, Details, auf die er leider nicht genügend geachtet hat, eine alte Brosche, die Dora getragen hat, ihre Schuhe, die Zehen, etwas war doch mit ihren Zehen. Ihre Augen sind graublau. Er weiß ihren Blick, aber vielleicht nicht mal das, die Wirkung, dass ihn da etwas trifft, auch jetzt, während er liest, was sie ihm geschrieben hat, eine Frau aus dem Osten, Mitte zwanzig.
    Auch M. ist Mitte zwanzig gewesen, als er sie getroffen hat. Vor ihr F. war Mitte zwanzig und nur wenige Jahre älter Julie. Offenbar lernt er seit Jahren nur Frauen kennen, die Mitte zwanzig sind. Was sagt das über ihn, der inzwischen vierzig ist? Dass er jung geblieben ist? Wie sehr er sich weigert, erwachsen zu werden? Darüber denkt er eine Weile nach. Es fällt ihm auf, dass sie fast alle jüdisch waren. Die Schweizerin ist keine Jüdin gewesen, auch M. nicht. Weil er M. traf, hat er Julie bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen. Jetzt, im Abstand von all den Jahren, scheint es ihm unglaublich, dass er dazu in der Lage gewesen sein soll.
    Dora schreibt, dass man an ihn denkt. Der Sand denkt an dich, das Wasser, das Heim, Tische und Stühle, die Wände in meinem Zimmer, wenn ich nachts nicht schlafe und merke, wie du überall vermisst wirst.
    Es ist Sonntagabend, der Doktor liegt im Bett und lauscht auf den Lärm der Straße, drüben in der Küche die Stimme der Mutter, die Schritte des Vaters, das Schlagen der Standuhr, in den Momenten, in denen es still ist, von weit weg sein Herz, in seinen Schläfen das Pochen des Blutes, wie er sich einbildet, nicht richtig müde, halb im Dämmer, ohne genaue Gedanken. Er ist nur froh, dass Dora ihn nicht so sieht. Er würde sofort aus dem Bett springen vor Scham, und am Ende wäre das ja gut, denn ohne Dora wird er das Bett womöglich nicht mehr verlassen. Er liegt im Bett und beobachtet zugleich von der Tür, wie er da liegt, mit dem Blick der Mutter, die immerzu etwas bringt, zuletzt

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