Die Herrlichkeit des Lebens
immer, aber jetzt gehen die Vorräte unerwartet zu Ende, die Dinge verlieren ihren Glanz, im Spiegel ihr Haar, der Blick, die Spuren auf ihrer Haut, die elend und empfindlich ist. Sie hat nicht gewusst, dass ihr Körper sich erinnern würde, Augen Nase Mund, ihre Lippen, die seine Lippen nicht haben, unter ihrem Bauchnabel die Stelle, an der es immer gezogen hat. Seine Stimme fehlt ihr, wie er sie anschaut, damals am Strand, als er sie mit einem Blick erkannte, wer sie war, ein dummes verliebtes Mädchen aus dem Osten, aber zugleich noch etwas anderes, jedenfalls für ihn, der etwas in ihr sieht, was bisher keiner in ihr gesehen hat. Sie findet sich nicht sonderlich hübsch, aber damals am Strand unter seinen Augen wollte sie hübsch sein, auch später auf der Landungsbrücke, als sie spürte, wie er sich nach ihr sehnte, und wie einverstanden er mit seiner Sehnsucht war und niemand anderen wollte als sie.
Bei der Fremdenpolizei hat man ihr mitgeteilt, dass die Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wird; eine neueStellung ist nicht in Sicht, also muss sie zurück nach Berlin. Sie redet mit Paul, nur in Andeutungen, warum sie aus Müritz nicht wegmöchte. Sie habe jemandem versprochen, hier auf ihn zu warten, vielleicht finde sich ja vorübergehend etwas in einem Hotel. In der Arbeitsvermittlung hat man ihr nicht viel Hoffnung gemacht, mit dem Ende der Ferien reisten viele Gäste ab, da gebe es an neuen Kräften praktisch keinen Bedarf.
Paul hat sofort eine Vermutung, auf wen sie wartet. Sie sagt nicht Nein und nicht Ja, was am Ende ebenfalls eine Antwort ist, endlich gibt sie zu: Ja, der Doktor. Jetzt, im Nachhinein, will Paul bemerkt haben, dass da von Anfang an etwas gewesen ist, so ein Flackern, beim Essen, wenn der Doktor mit ihr geredet hat, wie er sie ansah, wie kein Mensch einen anderen ansieht. Ist er nicht ein bisschen alt für dich? Paul ist Anfang zwanzig, für ihn ist ein Dreißigjähriger ein alter Mann . Aber dafür redet er jetzt sehr schön über ihn, der Doktor sei ein außergewöhnlicher Mann, sehr zart und zuvorkommend, ein Schriftsteller, nun gut, die halbe Kolonie habe sich schließlich in ihn verliebt.
Er hat gesagt, er geht mit ihr nach Berlin, gibt sie preis.
Der Doktor? Und deshalb wartest du auf ihn? Du könntest doch viel besser in Berlin auf ihn warten. Wann will er hier sein?
Das weiß sie leider nicht, aber wenn sie hier wegmuss, möchte sie auf keinen Fall nach Berlin, zurück nach Berlin geht sie nur mit ihm.
Er ist zu seiner Schwester in die Sommerfrische gefahren. Gestern, nach dem Gespräch mit Paul, ist eine Karte in der Post gewesen, und jetzt weiß sie erst mal nicht weiter. Die Schwester sei nicht sonderlich zufrieden mitihm gewesen, deshalb sei er für ein paar Tage zu ihr aufs Land gefahren. Der Name sagt ihr nichts. Schelesen heißt der Ort. Ottla sei sehr energisch gewesen, sie habe ihm praktisch keine Wahl gelassen. Ich sehe wie ein Gespenst aus, hat sie gesagt. Willst du mit einem Gespenst leben in Berlin? Gestern, in der Küche, hat sie nur gedacht: Nein, bitte nicht, Liebster, du bist in die falsche Richtung gefahren, kehr um, was soll denn aus mir werden.
Paul hat sie am Morgen gleich gefragt, was um Himmels willen ist. Schlechte Nachrichten? Sie weiß nicht, ob die Nachricht schlecht ist oder nur eine Nachricht, sie hat die Karte wieder und wieder gelesen, die Stelle mit dem Gespenst, und jetzt, allmählich, beginnt sie sich zu beruhigen. Wenn es nicht anders möglich ist, ist es im Grunde gut. Sie muss nur wissen, wo sie in der nächsten Zeit bleibt. Sie könnte zu ihrer Freundin Judith fahren, die in einem Dorf bei Rathenow den Sommer verbringt, vielleicht kann sie dort bis auf Weiteres bleiben.
Paul sagt: Man merkt, dass es dir nicht gut geht, aber man sieht, wie glücklich du bist. Er hilft ihr in der Küche, sitzt mit ihr im Garten, holt Kaffee und Gebäck, macht ihr Komplimente, aber immer so, dass sie sich wohlfühlt, als spräche er für den Doktor, der ihr diese Komplimente derzeit nicht machen kann. Er kommt, sagt er. Er wäre schön dumm, wenn er nicht kommen würde und dich wer weiß wem überlässt, und dann glaubt sie wieder daran. Sie fühlt sich etwas matt, aber sie ist frohgemut, und wenn es nur diese paar Tage gewesen wären, die Landungsbrücke, der Wald, auf seinem Zimmer das eine Mal und später das zweite. Aber selbst ohne das zweite Mal, wenn sie nur wüsste, dass es ihn gibt, für sie, wenn sie nur die Briefe hätte, die Telegramme,
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