Die Herrschaft der Drachen 01 - Bitterholz
sie, als er sie vom Boden hob und nach draußen trug. Angesichts des Lärms vermutete er, dass nur zu bald andere Wachen auftauchen würden. Er würde eine von ihnen seinen Posten übernehmen lassen, während er sie zu seinem Hauptmann brachte. Er konnte dabei möglicherweise richtig gut aussehen, besonders, wenn er die Anklagen etwas größer machte. Er konnte sie für die Ziege verantwortlich machen, die seit gestern fehlte. Auf diese Weise würde er nicht nur seinen vollen Bauch genießen, sondern auch den Spaß haben, die Schuld jemand anderem geben zu können.
Als er aus der Scheune trat, bemerkte er eine Gestalt, die sich näherte. Er blickte auf und erwartete, einen Kameraden zu sehen. Stattdessen sah er einen großen Mann mit einem dunklen Umhang, dessen Augen durch den breiten schwarzen Rand seines Hutes verborgen waren.
»Du da«, sagte der Mann. »Was hat die Ochsenhunde so aufgebracht?«
Wyvernoth bemerkte, dass der Mann ein Bündel über der Schulter trug und dass daran eine Axt befestigt war, was ihn beunruhigte, denn der Mann kam ihm vertraut vor. Hatte er diesen Mann eingelassen? Was würden seine Vorgesetzten sagen, wenn sie erfuhren, dass er jemanden eine Axt in die Stadt hatte bringen lassen?
Eine Axt.
Ein breitkrempiger schwarzer Hut.
Ein Ochsenhund.
Plötzlich erinnerte sich Wyvernoth sehr genau, wo er diesen Mann zwanzig Jahre zuvor gesehen hatte.
»D-du?«, fragte Wyvernoth, wobei seine Stimme in einem kleinen Quietschen versiegte.
Er ließ das Mädchen los, das daraufhin auf den Boden fiel.
»Du warst einer der Soldaten auf der Straße nach Christtal«, sagte der Mann. »Es ist viele Jahre her.«
Wyvernoth drehte sich um, senkte den Kopf, hob seinen Schwanz und ließ seinen Speer fallen. Dann schoss er davon wie ein Pfeil.
»Du!«, rief Bitterholz, unfähig, diese Wendung des Schicksals zu glauben. Selbst noch nach zwanzig Jahren waren die Gesichter der Drachen, die in jener Nacht den Wagen umringt und mit Speeren nach ihm gestoßen hatten, in sein Gedächtnis eingebrannt.
Bitterholz machte sich bereit, als der Drache auf ihn zustürzte; er wunderte sich, wieso sein Gegner ihn nicht mit
gezogener Waffe angriff. Er konnte deutlich ein Schwert in der Scheide an der Hüfte des Drachen sehen.
Der Drache schwenkte ab, als er näher kam; er richtete seinen Blick nicht auf ihn, sondern auf den Pfad hinter sich. Bitterholz wurde klar, dass der Drache ihn gar nicht angriff, sondern stattdessen vorhatte, an ihm vorbeizulaufen.
»Nein, das tust du nicht«, sagte Bitterholz und streckte ein Bein aus, als der Drache vorbeirannte. Die Wucht, mit der die Beine gegeneinanderstießen, brachte Bitterholz beinahe zu Fall, so groß war die Geschwindigkeit des Drachen. Nur durch einen Gleichgewichtssinn, den er sich in vielen Jahre des Kampfes angeeignet hatte, hielt er sich auf den Füßen, während der Drache mit dem Schnabel voraus auf die festgestampfte Erde prallte. Er überschlug sich dreimal, ehe er auf dem Rücken liegen blieb.
Bitterholz stürzte sich auf ihn, landete auf der Brust des Drachen und drückte eine Hand um die schuppenbesetzte Luftröhre der Bestie, während er ihm mit der freien Hand das Schwert aus der Scheide zog.
»Lass mich los! Er ist hinter mir her!«, jammerte der Drache.
»Er hat dich schon«, sagte Bitterholz und blickte in die dunklen, erschrockenen Augen des Drachen. »Nach all diesen Jahren treffen wir uns wieder.«
»Was?«, rief der Drache. »Bist du wahnsinnig?«
»Ja!«, sagte Bitterholz und verstärkte seinen Griff um die Kehle des Drachen. »Tu nicht so, als würdest du dich nicht erinnern! An Christtal!«
Die Augen des Drachen wurden größer. »Du! Du warst bei ihm! Der junge Mann in dem Wagen!«
»Bitterholz«, sagte Jandra und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Geh weg«, fauchte Bitterholz. »Versuche nicht, mich aufzuhalten. Er ist einer von denen, die meine Frau und meine Kinder getötet haben! Er stirbt jetzt!«
Bitterholz hob das Schwert.
»Bitte!«, kreischte der Drache. »Wir haben an diesem Tag keine Frauen oder Kinder getötet! Alle bis auf die Männer sind in die Sklaverei verkauft worden! Bitte verschont mich!«
Bitterholz spürte, wie sein Herz einen gewaltigen Satz machte. »Was?«, fragte er und ließ das Schwert sinken.
»Verschont mich!«
»Sklaverei?«, fragte Bitterholz und musterte die Augen des Drachen. »Ihr habt meine Familie in die Sklaverei verkauft? «
»Ja. Oh, bitte, lasst mich gehen, lasst mich gehen,
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