Die Herrschaft der Drachen 03 - Blasphet
am ehesten, verdorben zu werden, wenn ich meine Macht zurückbekomme.«
»Wenn du so viel Angst davor hast, deine Macht zurückzubekommen, wieso haben wir uns dann überhaupt die Mühe gemacht, den ganzen weiten Weg bis hierher zurückzulegen?«, fragte Shay.
»Weil ich keine andere Möglichkeit sehe. In dieser Welt ist so viel kaputtgegangen, dass ich meine Macht wiederhaben muss, wenn ich es reparieren will. Ich könnte Burkes Bein heilen und Vance sein Augenlicht zurückgeben.« Sie hatten Vance in Dornys Obhut zurückgelassen; seine Sehfähigkeit war seit dem Sturz vom Dach nicht mehr zurückgekehrt. »Ich könnte sogar herausfinden, warum Anza nicht sprechen kann.«
Anza klopfte mit dem Fuß auf die Pflastersteine und blickte zum Nachthimmel hoch.
»Gehen wir weiter«, sagte Jandra. »Aber nicht zu schnell. Das Magnetfeld des Armbands ist nicht sehr mächtig. Wenn wir zu schnell laufen oder starker Wind aufkommt, könnte es sein, dass das Muster zerreißt, und dann wären wir wieder sichtbar. Es ist gut, dass es heute Nacht windstill ist.«
Anza sah in ihre Richtung, als sie zu ihr gingen. Shay konnte erkennen, ab welchem Augenblick sie wieder sichtbar für sie wurden – ihr Blick verriet es ihm. Er stellte fest, dass er es zunehmend als angenehm empfand, ihr Gesicht zu betrachten. Sie konnte eine ganze Menge mit geringfügigen Bewegungen ihrer Augen und ihres Mundes mitteilen. Und Anza schien es nicht zu stören, angesehen zu werden. Sie verströmte eine ruhige Selbstsicherheit, wenn Leute sie beobachteten. Wenn Shay sich beobachtet fühlte, wurde er unsicher und unbeholfen.
Während es angenehm war, Anza anzusehen, fühlte er sich nach wie vor unbehaglich, wenn Jandra ihn dabei erwischte, dass er sie ansah. Anza war wunderschön, strahlte weibliche Anmut und Ausgeglichenheit aus, aber irgendwie verhinderten all die vielen Waffen an ihrem Körper jeden romantischen Gedanken. Bei Jandra war das anders. Zuerst war er von der Vorstellung abgestoßen gewesen, dass sie das Schoßhündchen eines Drachen gewesen war. Er hatte sie für hochnäsig und oberflächlich gehalten, wie so viele andere Schoßhündchen, denen er begegnet war. Trotz Jandras ungeduldigen Umgangs mit seinen Fragen musste er jedoch erkennen, dass sie ganz und gar nicht hochnäsig war. Im Gegenteil, sie schien von dem Bedürfnis angetrieben zu werden, anderen zu helfen und sie zu beschützen. Vielleicht war es hochmütig von ihr anzunehmen, dass sie die Probleme der Welt lösen konnte, aber das nahm Shay ihr nicht übel. Ihre edlen Gefühle zogen ihn an. Natürlich fand er sie auch auf andere Weise anziehend. Da war eine schlichte Schönheit an ihr, die er verlockend fand, selbst in der schlecht sitzenden, von anderen stammenden Kleidung, die sie trug.
Der Drachenpalast ragte wie ein Berg vor ihnen auf, und die Nacht wirkte kühler in seinem Schatten. Jandra deutete auf einen Turm. »Dort habe ich gewohnt. Seht ihr die hohen Fenster da? Mein Bett stand gleich darunter.«
»Es brennt kein Licht«, sagte Shay. »Glaubst du, dass es leer ist?«
»Das hoffe ich«, sagte sie. »Wenn wir Glück haben, hat Blasphets Ruf alle Besucher ferngehalten.«
Anza drehte sich um, als sie diesen Namen hörte.
»Blasphet?«, fragte Shay. »Du meinst den Mördergott?«
Jandra nickte. »Er hat den Turm bezogen, nachdem Vendevorex und ich geflohen sind. Er ist inzwischen tot. Ich habe
meinen alten Flaschengeist in der Nähe meines Bettes zurückgelassen; falls ihn jemand mitgenommen hat, sind wir allerdings umsonst hierhergekommen.«
»Ist der Flaschengeist in einer Flasche?«, fragte Shay.
»Nein«, sagte Jandra. »Wer immer diese Vorrichtung so genannt hat, hatte einfach nur Sinn für Humor. Ein Flaschengeist ist genau genommen ein magnetisch integriertes schnellrotierendes optisches Umkehrsystem. Das war die Quelle meiner Macht, nicht irgendwelche Magie.«
Shay hielt das für Haarspalterei, aber er beschloss, nicht mit ihr darüber zu streiten, zumal sie gerade einhundert Schritt vom Palasttor entfernt waren. Vier Erddrachen hielten dort Wache. Im Gegensatz zu den zerlumpten, von Kämpfen gezeichneten Kriegern, mit denen sie es in Burkes Schenke zu tun gehabt hatten, trugen diese hier leuchtend karmesinrote Uniformen.
»So, wie die da stehen, können wir uns unmöglich an ihnen vorbeischleichen«, flüsterte Jandra.
»Sollen wir einen anderen Eingang suchen?«, fragte Shay. »Ein Kampf wird Lärm machen und andere Wachen anlocken.«
Anza sah ihn an
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