Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Blutgerichts geköpft worden sein.
Der heimgekehrte Zar beschert seinen Landsleuten noch andere Zumutungen. Eben erst hat der Hochadel die Ankunft des Reisenden gefeiert, da nimmt sich Peter eine Schere und schneidet etlichen Bojaren die langen Bärte ab. Wie die Bärte, so lässt Peter auch die langen hemdartigen Kaftanschöße, Mäntel und Gewandärmel stutzen. Praktischere ungarische oder deutsche Kleider werden den Städtern verordnet, auch mal als modisches Muster ans Stadttor gehängt. Moskaus reaktionäre Eliten verübeln dem Zaren seine Freundschaft mit Deutschen, die in der Hauptstadt leben. Die aber faszinieren ihn als modern, gebildet und gut organisiert.
Mit diktatorischem Furor vereinfacht Peter auch die russische Schrift, modernisiert die Verwaltung und das Militär und passt den russischen an den westeuropäischen Kalender an (das neue Jahr beginnt nicht mehr am 1. September, sondern am 1. Januar). Schließlich schafft er die Unsitte ab, dass der Untergebene bei der tiefen rituellen Verbeugung vor dem Herrscher mit der Stirn den Boden berühren muss. Treue und Diensteifer schätze er mehr als solche Selbsterniedrigung, lässt Peter verlauten. Der rastlose Zar: Während er seine erste Ehefrau in ein Kloster verbannt und überkommene Traditionen kappt, holt er aus zu einem politischen Doppelschlag. Im Juli 1700 schließt er in Konstantinopel, nach zweijährigem Waffenstillstand, Frieden mit der Türkei. Und kaum hat er im Süden den Rücken frei, erklärt er im August Schweden den Krieg.
Die Ostsee-Großmacht wird regiert von dem gerade mal 18 Jahre alten König Karl XII ., einem Wittelsbacher, auch Herzog von Bremen und Verden. Im Bündnis mit Sachsen-Polen und Dänemark will der Zar das schwedische Baltikum in die Zange nehmen. Doch das misslingt gründlich. Trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit erleiden die Russen in einem Schneesturm eine schwere Niederlage bei Narwa. Ihr Blutzoll ist hoch, etwa 10000 Tote und Verwundete werden gezählt, fünfmal so viele wie die Opfer auf schwedischer Seite; 20000 Russen, darunter zehn Generäle, werden gefangen genommen. In ganz Europa wird Karl XII . als begnadeter Feldherr bewundert. Der Erfolg steigt dem Schweden zu Kopf.
Der gedemütigte Zar resigniert aber nicht. In äußerster Anspannung des Volkes, auch durch immer neue Steuern, macht Peter sein Land wieder kampffähig. Immer größere Teile der Bevölkerung müssen Rekruten stellen. Aus jeder dritten Kirche werden Glocken geholt, geschmolzen und zu Kanonen verarbeitet – eine frühe Form totaler Mobilmachung. Neue Eisenwerke, Leder- und Tuchmanufakturen liefern der Armee Waffen, Schuhe und Uniformen. Schon ein Jahr nach der Niederlage von Narwa verfügen die Russen über 300 neue Kanonen, die Armee kommt bald auf 200000 Soldaten.
Schon im Sommer 1701 geht Peter wieder in die Offensive. Der Zar erobert weite Teile von Livland und Estland, während Karl XII . in Polen Krieg führt. Peters Truppen hausen furchtbar in diesen Gebieten, brennen Dörfer und Höfe nieder, plündern Lagerhäuser, verwüsten Felder, verschleppen Familien – der Feind soll nichts Essbares, nichts Brauchbares mehr finden. Verbrannte Erde. Im Mai 1703 erobern die R ussen die Festung Nyenschanz nahe der Mündung der Newa in den Finnischen Meerbusen. Die neue Festung, die Peter mitten im Mündungsdelta bauen lässt, erhält eine Kirche, benannt nach den Aposteln Peter und Paul. Der Zar tauft den Ort, den er zur Hauptstadt des Landes machen wird, »Sankt-Piterburch«, St. Petersburg – Personenkult im religiösen Gewand.
Doch Karl XII ., ähnlich willensstark wie sein russischer Gegner, gibt nicht auf. Nachdem es ihm gelungen ist, August den Starken aus dem Bündnis mit Russland herauszubrechen, marschiert er am Jahresende 1706 mit einer glänzend ausgerüsteten Armee von 40000 Mann gen Moskau. Die Russen kombinieren eine Strategie des Rückzugs ins Landesinnere mit gezielten Nadelstichen gegen die Nachschublinien des Feindes. Wo auch immer die Schweden durchziehen, finden weder Tiere noch Soldaten Nahrung. Schon bald dezimieren Hunger, Kälte und Krankheit die schwedische Armee, wie ein Jahrhundert später die Truppen Napoleons.
Im Sommer 1709 kommt es zur Entscheidungsschlacht vor der ukrainischen Festung Poltawa. Karl XII . verfügt nur noch über 22000 Soldaten. Ihnen stehen etwa 42000 Russen gegenüber. Karl verliert die Bataille. Zusammen mit kosakischen Verbündeten flieht er über die Grenze in die Türkei. 7000
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