Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
1919 ermordeten Vettern liegen womöglich in dieser schlichten Holzkiste hier? »Ich weiß nicht, ob das je geklärt werden kann«, sagt Kildjuschewski, »aber ich wünsche mir, dass wir die historische Wahrheit herausfinden, es ist unsere Bürgerpflicht. Die Großfürsten waren immerhin, nach der Ermordung von Nikolaus II. im Juli 1918, die höchstrangigen Anwärter auf die Thronfolge.«
Was da der Boden der Festung ausspuckt, seit die Sowjetunion untergegangen und die geopolitische Eiszeit in Europa beendet ist, seit aus Leningrad wieder St. Petersburg wurde, das sind – im Permafrost eingeschlossenen Fossilien gleich – Überbleibsel aus der mehr als 200-jährigen glanzvollen Periode des Zarentums in der Stadt an der Newa. Ans Licht gekommen sind Reste der hölzernen Festung von 1703 und des ersten Senatsgebäudes, dazu rostige Vorderlader aus den Waffenschmieden Peters I. »Es ist einerseits«, sagt der alte Archäologe Kildjuschewski, »ein bewegendes Gefühl zu wissen, wir gehen auf dem Boden, auf dem Peter ging. Andererseits bin ich, was seine Lebensleistung angeht, gespalten: Er war ein grausamer Herrscher, der Russland gewaltige Blutopfer abverlangt hat; aber er trieb das Land Richtung Europa. Mehr als Peter hat innerhalb von nur 25 Jahren kein Zar geschaffen.«
Viel beklagt und gut belegt ist die Tatsache, dass Petersburg »auf Schlamm und Knochen« gebaut wurde; dass also Peter I. nichts und niemanden schonte, um seinen Traum von einer Hauptstadt wahr werden zu lassen, die den Russen ein »Fenster nach Westen« öffnet. Das Gelände der Festung zeugt noch heute vom unerbittlichen Willen des Herrschers. Der erste Häftling, der hier gefoltert wurde und im Gefängnis verstarb, war der widerspenstige Alexej – der Zarewitsch und älteste Sohn Peters des Großen. Nicht weit von den alten Kasematten der ersten Jahre haben sie später die Trubezkoi-Bastion zum berüchtigtsten Gefängnis für politische Häftlinge der Zarenzeit ausgebaut. Inzwischen ist die alte Zuchtanstalt zum Museum umgewidmet. Die Namen der einstigen Gefangenen, an den Zellentüren vermerkt, erzählen die Geschichte des Widerstands gegen die verhassten Romanows.
Düstere Kreuzgänge, große, karg möblierte Zellen, schallgedämpfte Wände – so mancher Häftling ist hier verrückt geworden. In Zelle 60 saß 1905 der Schriftsteller Maxim Gorki ein. Dieselbe Zelle, ein Jahr später: Leo Trotzki. Wenige Meter weiter, an der Tür von Nummer 47, ist als ehemaliger Insasse verzeichnet: Alexander Iljitsch Uljanow, Lenins Bruder. Er war Drahtzieher des Plans, Zar Alexander III. zu ermorden, wurde deswegen zum Tode verurteilt und schließlich gehängt im Mai 1887. »Wissen Sie, wer ihn, den Uljanow, Religion gelehrt hat, als er noch aufs Gymnasium ging?«, fragt lächelnd der alte Archäologe in seiner Rumpelkammer. »Das war mein Großvater, ein Priester. Den Bruder Uljanows hat er auch unterrichtet – Lenin. Unsere Familie kommt aus der Stadt Simbirsk. Wie Lenin selbst und wie der von ihm später gestürzte Ministerpräsident Alexander Kerenski.«
Launen der Geschichte, Beispiele schicksalhafter Verstrickung: Die Chronik Petersburgs ist voll davon. Von Anfang an sind Menschen aus allen Teilen des Imperiums hierher gerufen worden. Die ersten, um mitzubauen an der »Hauptstadt des Nordens« – Tausende, Zwangsarbeiter und Leibeigene vor allem, bezahlten dafür mit ihrem Leben. Die späteren kamen, um der Stadt aus Stein und Granit, die geprägt war von italienischen Baumeistern, deutschen Kaufleuten und französischen Höflingen, ein wenig russische Seele einzuhauchen. In der Figur des Ehernen Reiters auf dem Senatsplatz an der Newa ist dem Stadtgründer ein Denkmal gesetzt: Über einem Felsblock von 1600 Tonnen Gewicht thront da der Herrscher, Peter I. , sein sich bäumendes Ross leichterhand bändigend, in der Pose des Sehers. Unter den Hufen des Pferds wird eine Schlange zermalmt – stellvertretend für alle Gegner der Petrinischen Reformen. Weg vom Mittelalter, weg von Moskau, hin nach Petersburg: Eine neue Stadt als Symbol neuen Denkens, das war Peters Plan. Es ging ihm, zu Lasten der Stellung von Kirche und Adelsstand, um die Förderung von Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, um die Modernisierung von Militär und Verwaltung.
Alexander Puschkin hat in seinem Gedicht »Der Eherne Reiter« das Vorrecht des Herrschers auf einsamen Ratschluss, aufs Regieren mit eiserner Hand besungen; und im selben Gedicht dem Zorn jenes kleinen Beamten
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