Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
gegen die alte Barbarei, durch politische, militärische und alltagskulturelle Reformen; zugleich hat er durch den Ostsee-Zugang die Handelsbeziehungen zu England, Holland, Frankreich und den deutschen Staaten entscheidend intensiviert. So war er trotz vieler taktischer Fehler, die der impulsive, launische, vielleicht manisch-depressive Mann machte, ein bedeutender Stratege. Gawril Derschawin, ein russischer Dichter des 18. Jahrhunderts, stellt mit Blick auf Peter den Großen die rhetorische Frage: »War Gott es nicht, der in ihm niederstieg?« Eins war er gewiss: ein kolossal außergewöhnliches, widersprüchliches, zugleich sympathisches wie abstoßendes Individuum. Und für das Russland jener Jahre war er trotz seiner despotischen Wutausbrüche: ein Glücksfall.
Sumpfblüte aus Stein
Mit der Entscheidung, St. Petersburg
zur neuen Hauptstadt zu machen, öffnete Peter I.
das russische Reich in Richtung Westen.
Noch 300 Jahre später lebt hinter den Mauern
der alten Prachtbauten die Erinnerung
an die untergegangene Dynastie.
Von Walter Mayr
S till ist es nachts im Gemäuer, das die toten Zaren birgt. Kein Ton von draußen dringt bis hierher. Nichts von profanem Getriebe. Nur hinter dem Grabmal von Großfürstin Anna Michailowna sind leise Schritte zu hören. Pistole und Handschellen im Bund ihrer Uniformhose, geht die junge Polizistin Toma Patrouille. Seit fünf Jahren, sagt sie, schiebe sie hier Wache: 24 Stunden am Stück, alle drei Tage, nur sie allein. Sie gruselt sich nicht. Sie hält die Stellung, im Reich der toten Romanows. Fünfundfünfzig Mitglieder der Herrscherdynastie, darunter zwölf Regenten, sind in der Peter-Paul-Kathedrale zu St. Petersburg begraben. Im Walhall des Zarengeschlechts hat man die Mitglieder der ehemals edelsten Familie dicht an dicht zur Ruhe gebettet: Von der Kapelle, in der Nikolai II. , letzter Zar der Russen, samt Gattin und vier Kindern ruht, bis zum Prunkgrab Peters I. rechts vom Altar sind es kaum hundert Schritte. Verziert mit Plastikrosen und Bronzebüste steht der Sarkophag Peters I. – des Großen – neben dem seiner Gattin Katharina. Nicht weit entfernt, aus blutrotem Ural-Rhodonit geschnitzt, fällt das Grabmal des ermordeten Reformzaren Alexander II. ins Auge. Und hinter der angelehnten Tür zur Grabkapelle blickt stumm von einem Bild an der Wand der letzte Zarewitsch. Wo seine sterblichen Überreste sind, ist bis heute strittig.
Wer aus dem Totenreich ins Freie tritt, sieht Backsteinmauern rundum. Die Peter-Paul-Kathedrale ist Blickfang und Mittelpunkt jener Festung, die Peter I. am Newa-Ufer errichten ließ. Ein Bollwerk, das die wechselvolle Geschichte des imperialen Russland bebildert: Hier begann 1703 die Gründung der künftigen Hauptstadt Petersburg; hier landeten, mehr als 200 Jahre später, die Minister der letzten zaristischen Regierung in Gefängniszellen; und hier sind, in der Kathedrale, die toten Romanows zur Ruhe gekommen. Das heißt, zur Ruhe sind nicht alle gekommen. Sagt zumindest Wladimir Kildjuschewski. Der weißhaarige Archäologe trägt Bürstenschnitt, Ziegenbart und eine Anzughose, deren Flecken von tätiger Arbeit im Feld erzählen. Kildjuschewski leitet die Ausgrabungen auf dem Gelände der Festung. Und fördert nicht selten Erschütterndes zutage. »Hier auf diesem Boden hat dem Petersburg der Zaren das Stündlein geschlagen«, sagt der Wissenschaftler, während er schnellen Schritts vorauseilt in sein Reich – eine Rumpelkammer, drei Treppen hoch in einer Ecke der Festung. Mannshohe Regale hinter weißer Kunststofftür: Hier lagert, streng geordnet, was der Archäologe und seine Helfer in den letzten Jahren aus der Erde geholt haben. Zerfetzte Kleider, Goldkreuze, Medaillons; in einer Kiste nur Gebisse; in einer anderen nur Schädel.
Kildjuschewski nimmt einen davon heraus, dreht ihn in seiner Hand und zeigt ein fingerkuppengroßes Einschussloch auf der Rückseite: »Der hier ist von hinten erschossen worden«, sagt er, »wie die meisten anderen auch.« Knochen und Gerippe von 112 Menschen hat man inzwischen geborgen. Alle sind sie ab 1918 auf dem Gelände der Festung dem »Roten Terror« zum Opfer gefallen – so tauften die Bolschewiki ihre Abrechnung mit Adel und Bourgeoisie. »Es spricht einiges dafür«, sagt Kildjuschewski, »dass unter den Opfern, die wir entdeckt haben, auch die vermissten Großfürsten der Romanows sind.« Heißt das, die Schädel von Paul Alexandrowitsch, dem Onkel des letzten Zaren, und seinen am 30. Januar
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