Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Raum gegeben, der sein Weib in den Newa-Fluten verlor; und der in der Folge die Hybris des Zaren beklagt, sich eine Hauptstadt ausgerechnet ins Sumpf- und Überschwemmungsgebiet bauen zu lassen. Puschkins Gedicht zählt bis heute zur Pflichtlektüre an Schulen. Die Mehrheit russischer Denker kam und kommt im Urteil über Peter I. und sein Petersburg zu noch weniger günstigen Schlüssen. Schon Fjodor Dostojewski klagt, wie schrecklich es sei, »in der abstraktesten und vorbedachtesten Stadt der Welt zu leben«. Über den Zaren und seine Vorliebe für gerade Linien und Prunkbauten vom Reißbrett höhnen noch andere im 19. Jahrhundert.
Zum Inbegriff dieser Stadt, die »gegen Russland« erbaut worden sei, wie viele behaupten, zum Inbegriff des steingewordenen Herrschaftsanspruchs wird die Magistrale der Hauptstadt erklärt: der streng gezirkelte, Glanz und Urbanität des Zarentums beschwörende Newski-Prospekt. Auf dem Newski, schreibt Nikolai Gogol, »ist alles Trug, alles Traum, alles nicht das, was es scheint«. Wie ein Fliegender Holländer, so Andrej Bely 1913 in seinem Romanepos »Petersburg«, sei Peter I. über dem Newa-Delta eingeschwebt, um »hier als Blendwerk sein nebliges Reich zu errichten«. Unwirklich wie eine Luftspiegelung über den finnischen Sümpfen komme einem diese Metropole vor, urteilt der Chronist Nikolai Anziferow: bis in die Anlage ihrer Prunkgärten hinein den Allmachtsanspruch des Zaren abbildend, aber auch dessen Grenzen. Denn die »bleiche Petersburger Sonne«, so spottet Anziferow, »lockte nur dürre Tulpen aus den fetten Rotterdamer Zwiebeln heraus«. St. Petersburg – eine bizarre Sumpfblüte aus Stein? Der Entschluss, 700 Kilometer südlich des Polarkreises italienisch inspirierte Barockpaläste und Lustschlösser als Wahrzeichen einer Hauptstadt zu errichten, mag noch heute wahnwitzig wirken. Andererseits: Das moderne Petersburg wäre nichts ohne das Erbe des Gründers. Ohne die Fundamente, die Peter I. legen ließ.
Es wäre nicht die Stadt, in der Jahr für Jahr zweieinhalb Millionen Menschen vor einem ehemaligen Zarenpalast Schlange stehen, um Eintritt zu zahlen und sich dann, vorbei an Museumswärterinnen mit sowjettypischem Röntgenblick, auf Hunderte zur Besichtigung freigegebene Räume zu verteilen: In der Staatlichen Eremitage mit ihren rund drei Millionen Ausstellungsstücken sind nicht nur Meisterwerke von Leonardo da Vinci, Gauguin oder Picasso zu sehen. Die Staatliche Eremitage ist vor allem ein Ort, an dem die Zaren Geschichte schrieben. Und ein Ort, an dem gegen den Willen der Zaren Geschichte geschrieben wurde. »Doch dazu später, erst einmal der Reihe nach«, sagt Tatjana Robertowna. Robust und resolut verkörpert Tatjana Robertowna unverkennbar den Stil der noch zu Breschnew-Zeiten geschulten Museumsführerin. Das heißt, nicht zuletzt: Sie weiß, wovon sie spricht. »Schon Peter I. «, so legt sie los, »hatte an dieser Stelle seinen Winterpalast, hier ist er auch gestorben. Reste seines Palasts wurden erst gut 250 Jahre später entdeckt – Mauerstücke, Fundamente und eine Flasche Tokajer; aber die war natürlich längst Essig.«
Weiter geht es, mitten durch die Schatzkammern der Zaren: Alte Eremitage, Neue Eremitage, Kleine Eremitage, Winterpalast. Alles prall gefüllt mit Kunstwerken von Weltrang. Aber wo sind die Spuren von Glanz und Elend der Romanows? Erklärende Schilder fehlen, Tatjana Robertowna immerhin weiß Bescheid. »Saal Leonardo da Vinci«, schnarrt sie, unter Kronleuchtern und Seidenteppichen aus Flandern verharrend. »Hier hängt nicht nur Leonardos ›Madonna Benois‹ von 1475. In diesem Saal wurden auch Dekabristen verhört; bisweilen von Zar Nikolai I. persönlich.« Einer der Betroffenen war Pawel Pestel, Lutheraner deutscher Abkunft und führender Kopf der Dekabristen. Die Verschwörer vom Dezember 1825 hatten vergebens eine Hinwendung zur Republik geprobt. Pestels Standhaftigkeit bei den Verhören beeindruckte den Zaren, hielt ihn indes nicht davon ab, den Rebellenführer in einer Zelle der Peter-Paul-Festung auf seinen Tod warten und im Juli 1826 hängen zu lassen.
Weiter geht es im Sturmschritt mit Tatjana Robertowna durch die russische Geschichte. Vorbei an den Touristenschwärmen rund um die bronzene Pfauenuhr im Pavillonsaal, vorbei an dem kleinen Kabinett mit Blick auf die Newa, in dem Katharina die Große ihre engsten Vertrauten um sich zu scharen pflegte, und ab in den Winterpalast. Hinter dem Thronsaal mit Säulen aus
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