Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Carrara-Marmor führen Treppen zu den Privatgemächern der Zarenfamilie im Nordwestflügel. »Die lebten dort ja viel bescheidener, als die Repräsentationsräume hier vermuten lassen«, erklärt Tatjana Robertowna. Das hätte sie so zur Breschnew-Zeit nicht sagen dürfen, ist aber die Wahrheit. Durch einen dunklen Korridor geht es auf die kaiserlichen Gemächer zu. »Hier zur Rechten starb Alexander II. in seinem Schlafzimmer nach dem Attentat. Im Zimmer daneben hat er 1861 den Erlass zur Abschaffung der Leibeigenschaft unterzeichnet«, sagt die Museumsführerin. »Dahinter sehen wir die Treppe zur Wohnung Ihrer Kaiserlichen Hoheit Maria Alexandrowna. Über diese Treppe sind die Bolschewiki damals vom Schlossplatz gekommen, im November 1917, und haben die Minister der Provisorischen Regierung verhaftet. Aber da war der Großteil der Wachen schon lange weg.«
Dann strebt Tatjana Robertowna dem Malachitsaal zu und dem angrenzenden Weißen Esszimmer. Hier tagte 1917 die liberale Regierung unter Alexander Kerenski. Bis zuletzt, bis die Bolschewiki die Macht an sich rissen, um ein Dreivierteljahrhundert lang Geschichte nach ihrem Gutdünken zu schreiben. Der Moment, in dem sich Russlands Zeitenwende vollzog, wurde verewigt, sagt Robertowna und bleibt vor einer Kaminuhr stehen: Die zeigt noch immer 2.10 Uhr – den Zeitpunkt der nächtlichen Machtübernahme durch Lenins Gefolgsleute am 8. November 1917. Was haben die Bolschewiki übrig gelassen vom Petersburg der Zaren? Von jener Stadt, der die Dichterin Anna Achmatowa zwei Jahre vor der Revolution noch die Verse widmete: »Und dennoch würden wir sie niemals tauschen, die prächtige granitne Stadt voll Unglück und voll Ruhm, die weiten Flüsse unterm blanken Eise, die Parks, die sonnenlos im Finstern ruhn, der Muse Stimme sei sie noch so leise.«
Am besten lässt man sich von Daniil Fedkewitsch an die Hand nehmen und im Anitschkow-Palast durch Zeit und Raum begleiten. Daniil ist 15 Jahre alt und besucht das vorzügliche Lyzeum in der ehemaligen Residenz von Zar Alexander III. am Newski-Prospekt. Zusammen mit der hübschen Sascha aus der zehnten Klasse gilt er als der beste Pfadfinder und Spurenleser im Gewirr der Gänge und als Türöffner im nicht öffentlichen Teil des Prunkbaus. Wer durch den Anitschkow-Palast samt sowjetischen Anbauten geht, muss drei Epochen unterscheiden lernen. Einst von Katharina II. ihrem Favoriten Potjemkin übereignet, erlebte der Palast seine Glanzzeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Ballsaal und Bühne feingeistiger Salons. Von den Sowjets ab 1937 zum Palast der Leninpioniere umgewidmet, beherbergt der Komplex heute den »Palast der Kreativität der Jugendlichen«, der in weiten Teilen so aussieht, wie sein Name klingt: 16000 Kinder und Jugendliche werden hier in unterschiedlichen Fertigkeiten geschult.
Daniil springt mühelos vom Vorgestern übers Gestern ins Heute und zurück, er zeigt, wo oberhalb der Paradetreppe Hammer und Sichel das Wappen der Zaren ersetzen; er kann kostbare Marmorreliefs mit Motiven aus den Trojanischen Kriegen erklären und auch die drei leeren Nischen im dritten Stock: »Dort hingen früher Porträts von Lenin, Stalin und dem Leningrader Parteisekretär Andrej Schdanow.« Der Anitschkow-Palast, samt Gummibäumchen und Möbeln aus volkseigener Herstellung im neueren Teil, samt Louis-XVI.-Rokokostühlchen im alten, ist eine Art St. Petersburg en miniature. Geschichte zum Anfassen, vernarbtes Gewebe. Im Kinderzimmer von Nikolai II. tagt heute auf schäbigem Teppich und Holzgestühl eine Schüler-Arbeitsgemeinschaft zur Geschichte der Stadt. Der junge Daniil braucht da nicht zuzuhören. Er weiß auch so, dass in den Prunksälen hier oben Puschkin, Tschaikowski und Dostojewski auf zierlichem Gestühl bei Romanows zu Gast waren. Und er weiß, dass hier kurz vor Kriegsausbruch 1914 das letzte rauschende Fest des Zarengeschlechts über die Bühne ging – die Vermählung von Prinzessin Irina Alexandrowna mit dem späteren Rasputin-Mörder Fürst Felix Jussupow.
Was erzählen die Lehrer einem Petersburger Gymnasiasten 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion über die Zarenzeit? – »Weder Vor- noch Nachteile werden verschwiegen«, sagt Daniil. – Was war das Positive? – »Dass alles schneller ging. Weil nicht so viele mitentschieden haben.« Im Übrigen, fügt Daniil hinzu, sei in seinem Land die Frage nach dem politischen System nicht die allein entscheidende. Eines seiner Lieblingszitate stamme vom
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