Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Michail Lomonossow und Sergej Witte, Premier des letzten Zaren, zur Linken.
Drinnen, in der Dreifaltigkeitskathedrale, wo im flackernden Schein bleistiftdünner Bienenwachskerzen Mönche und gewöhnliche Gottesfürchtige gegen die Winternacht ansingen, wo in der Nische, in der der Zarenthron stand, nun die Alten auf einer Bank kauern und Einzelne sich vor dem silbernen Schrein mit den Reliquien Alexander Newskis verneigen – in dieser Kathedrale ist es, als wäre das alte Russland, gebaut auf den Dreiklang aus Krone, Kirche und gläubigem Volk, nie untergegangen.
Im linken Seitenschiff der Kathedrale hängt unter anderen Ikonen nun ein Bild, das noch nicht lange zur Anbetung einlädt. Es zeigt einen bärtigen Familienvater mit Frau, vier Töchtern und einem einzigen Sohn. Der Junge trägt Uniform und hat beide Hände erhoben, als ahnte er sein Schicksal voraus. Zarewitsch Alexej aus dem Geschlecht der Romanows wurde erschossen und verscharrt von den Schergen der Bolschewiki im Sommer 1918. Inzwischen ist er heiliggesprochen. Wie sein Vater und der Rest der Familie.
Der Wille zur Macht
Katharina die Große war als strenge Herrscherin
bewundert und gefürchtet. Sie spielte mit den Ideen
der Aufklärung, blieb aber absolute Kaiserin.
Von Georg Bönisch
T ag der Entscheidung, ein Freitag, der 9. Juli 1762. Schon ganz früh steht über der russischen Hauptstadt St. Petersburg die Sonne prall am wolkenlosen Himmel. Es scheint, als wäre sie gar nicht untergegangen. Weiße Nächte, so heißt die Zeit der Sommersonnenwende, in der die Abend- und die Morgendämmerung kaum merklich ineinander übergehen. Wieder einmal hat sich Peter, der Kaiser, der Zar, allein ins knapp 40 Kilometer entfernte Oranienbaum verzogen, und wieder einmal hat er über die Maßen getrunken. Peter ist Deutscher, ein Mann aus Holstein; die Russen, das Volk, über das er herrscht, sind ihm fremd. Die Preußen, die verehrt er, trägt am liebsten deren blaue Uniform. Ein ewiger Junge, der lange mit Soldatenfiguren aus Holz und Blei spielte, bildungsfaul, jähzornig. »Er ist eine Missgeburt«, sagte seine Tante voller Verachtung, »der Teufel möge ihn holen.«
Auch Peters Frau stammt aus Deutschland. Katharina ist intelligent, klug, emanzipiert, sie schmökert in lateinischen und griechischen Klassikern, liest Montesquieu und auch Voltaire, dessen Werke »mein Gemüt und meinen Geist geformt haben«. Schon als Teenager behauptete sie, ein »philosophischer Kopf« zu sein. Schnell lernte sie Russisch, weil »ich Russin sein wollte, um von den Russen geliebt zu werden«. Was ihr gelingt, obwohl sie ihr Leben lang mit deutschem Akzent spricht. Sie geht in ihrem neuen Glauben auf, der orthodoxen Lehre, Peter hingegen ist verkappter Lutheraner.
Katharina hat die helle Juli-Nacht im »Monplaisir« verbracht, einer kleinen Villa auf dem Gelände von Schloss Peterhof, wie Oranienbaum Sommersitz der kaiserlichen Familie am Saum der Ostsee. Um sechs Uhr lässt ein Offizier der kaiserlichen Garden, ein Elitekämpfer, sie wecken. Der narbengesichtige Hauptmann Alexej Orlow mahnt zur Eile: »Alles ist fertig für die Proklamation.« Ein Satz, der klingt wie ein Code. Proklamation – das heißt, Katharina auf den Thron zu heben und den Kaiser abzusetzen. Coup d’état, Staatsstreich, ein Verbrechen, beschlossen aus Gründen der Staatsräson.
Peter III. ist erst seit einem halben Jahr Zar aller Reußen und hat bereits eine starke Opposition gegen sich aufgebracht. Den Militärs missfällt vor allem seine offen zur Schau gestellte Preußenliebe; Peters Spruch, General in Preußen zu sein sei ehrenvoller als Imperator in Petersburg, muss als böse Entgleisung gelten. Und dann sein Befehl, russische Soldaten in einen Krieg gegen Dänemark zu hetzen – um die Interessen des Hauses Holstein durchzusetzen, Interessen seines Hauses. Ein Privatkrieg also, bald soll Abmarsch sein. Das ist zu viel. Dieser Herrscher muss weg. Nur seine Frau kommt für die meisten der Verschwörer als Nachfolgerin in Frage. Katharina hat ihre eigenen Gründe. Erst kürzlich kanzelte Peter sie in aller Öffentlichkeit ab, eine »dura« sei sie, eine dumme Gans, ein dummes Frauenzimmer. Und sie ist überzeugt davon, dass er sie verstoßen will, um seine Geliebte zu heiraten.
Katharina vereinbart mit Joseph II. von Österreich
und Friedrich II . von Preußen 1772 die erste Teilung Polens
(Gravur, 18. Jahrhundert)
FOTOFINDER/BRIDGEMANART.COM
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