Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Gegenpol. Paul liebte Drill und Disziplin; im Hochadel war er weithin verhasst. Alexander I. blieb für seine Umgebung rätselhaft, was vielleicht am erzieherischen Hin und Her zwischen Vater und Großmutter lag. Mal schien er dem Adel entgegenzukommen, mal drängte er ihn zurück. Mal stärkte er die Reformkräfte, dann wieder protegierte er beinharte Reaktionäre. Die Leibeigenschaft der Bauern verurteilte er als »Schande Russlands«, aber weniger als einem Prozent dieser Elenden verschaffte er die Freiheit. Einer seiner engsten Vertrauten aus der frühen Regierungszeit urteilte später sarkastisch: »Er wünschte gern der ganzen Welt die Freiheit zu schenken, unter der Bedingung, dass sich alle freiwillig seinem Willen unterziehen.« Autokratie mit freundlichem Antlitz, das war sein Herrschaftsstil.
Mit dem acht Jahre älteren Napoleon Bonaparte musste sich Alexander von Anfang an auseinandersetzen. Die spektakuläre Siegesserie des Feldherrn, Ersten Konsuls und Kaisers versetzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz Europa in Staunen und Schrecken. Hatte der junge Petersburger Aristokrat den genialen Aufsteiger anfangs noch mit Sympathie gesehen, wandelte sich das Bild bald nach seiner Kaiserkrönung. In einem Brief schrieb Alexander, der Franzose sei »einer der berüchtigtsten Tyrannen, die die Geschichte je hervorgebracht hat«. In Russland, dem geografischen wie politischen Gegenpol, wiesen viele dem Zaren im Kampf gegen Napoleon eine historische Mission zu. Leo Tolstoi hat diese Stimmung viel später in seinem Romanepos »Krieg und Frieden« beschrieben. Die Gastgeberin eines Petersburger Salons hält zu Beginn des Werks einen flammenden Monolog: »Russland muss allein der Retter Europas sein. Unser gütiger Kaiser wird seine Bestimmung erfüllen, die Hydra der Revolution zu zermalmen, die jetzt ja noch schrecklicher ist in der Gestalt dieses Mörders und Verbrechers.«
Erst einmal mussten die Russen aber lernen, Niederlagen zu verdauen. 1805 besiegte Napoleon ihre Armee mitsamt den verbündeten Österreichern nahe dem heute tschechischen Austerlitz; 1807 bei Friedland in Ostpreußen fügte er einem russisch-preußischen Heer schwere Verluste zu. Danach blieb Alexander I. nicht viel anderes übrig, als mit dem französischen Imperator Frieden und ein Bündnis zu schließen. Die erste persönliche Begegnung der Kontrahenten wurde sorgfältig inszeniert. Ort des kaiserlichen Gipfeltreffens sollte die Memel bei Tilsit sein. Auf einem vertäuten Floß in der Mitte des preußisch-russischen Grenzflusses erhob sich ein prächtig geschmücktes Zelt. Es regnete in Strömen, als sich Alexander I. am 25. Juni 1807 zu dem schwimmenden Zelt rudern ließ. Seinen Gesprächspartner, der dort fünf Minuten vor ihm eingetroffen war, begrüßte er zu dessen Überraschung mit ausgesuchter Herzlichkeit. Am Ufer stand Friedrich Wilhelm III. , der sich in die Rolle des Verlierers fügen musste. Der preußische König konnte nur ohnmächtig zuschauen, wie die beiden Mächtigen auch über das Schicksal seines Landes entschieden.
Der Zar, dem preußischen Königspaar seit langem freundschaftlich verbunden, sorgte immerhin dafür, dass ein Rumpfstaat erhalten blieb, der sich aus eigener Kraft von der Niederlage erholen konnte. Dahinter steckte auch ein politisches Kalkül, das nur wenige Jahre später aufging: In den Feldzügen von 1813/14 kämpfte Preußen an Russlands Seite. In den Verhandlungen mit Napoleon spielte der russische Monarch die Rolle des etwas naiven Schülers, und er spielte sie gut. Der Franzose sollte ihn unterschätzen, so würde ihm Zeit bleiben, neue Stärke zu gewinnen. Wie gelungen Alexanders Rollenspiel war, zeigt eine Warnung des französischen Gesandten in St. Petersburg 1810 an seine Regierung: »Die Leute glauben, er sei schwach, aber sie irren sich. Seine Persönlichkeit ist ihrem Wesen nach wohlwollend, herzlich und loyal, er hat hohe Gefühle und Prinzipien, aber dahinter verbergen sich eine anerzogene königliche Verstellung und eine verbissene Hartnäckigkeit, die unbezwingbar ist.«
Obwohl der Pakt mit Napoleon in St. Petersburg extrem unpopulär ist, hält Alexander I. an seiner außenpolitischen Linie fest. Er weiß, dass sein Bündnis mit Frankreich von begrenzter Dauer ist, und bereitet seine Armee auf den nächsten Krieg vor. Sehr nützlich ist dabei die Spionage, die zwei junge Diplomaten in Paris betreiben. Sie beschaffen geheime Dokumente der französischen Regierung, die dem Zaren eine
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