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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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Reichs verankert. Unterschieden wird zwischen der »Katorga«, der Zwangsarbeit, und der »Ssylka«, der einfachen Verbannung.
    In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts deportierte die Regierung nach Schätzungen im Durchschnitt rund 2000 Verurteilte pro Jahr. Nach 1753, als die Todesstrafe weitgehend abgeschafft und in lebenslange Zwangsarbeit umgewandelt wurde, stieg die Zahl der Verbannten auf bis zu 10000 jährlich. Seit dieser Zeit durften auch Dorfgemeinschaften sogenannte verderbte Personen nach Sibirien schicken, später konnten Gutsbesitzer widerspenstige Leibeigene deportieren oder Manufakturbesitzer unbotmäßige Arbeiter.
    Damit regierte die Willkür. Oft reichte ein Verwaltungsakt, um einen Menschen nach Sibirien zu zwingen. Schwerverbrecher konnten mit wenigen Jahren einfacher Verbannung davonkommen, während Menschen, die nur ihren Ausweis verloren oder Vorgesetzten Widerworte gegeben hatten, bis an ihr Lebensende Zwangsarbeit leisten mussten. Vor ihrer langjährigen Sträflingsarbeit wurden die Verurteilten häufig ausgepeitscht und ihre Nasenflügel aufgeschlitzt. Zahlreiche Delinquenten erhielten ein Brandmal, oft auch im Gesicht. Als Tortur erlebten viele Gefangene bereits den Weg nach Osten. Von Moskau aus waren sie sechs oder mehr Monate unterwegs, teils mit Eisenfesseln aneinandergekettet, unter oft katastrophalen Verhältnissen in Etappengefängnissen untergebracht.
    Zwischen 1823 und 1887 lebten genau 772 979 Verbannte in Sibirien, so hielten es jedenfalls Staatsbeamte penibel fest. Etwa jeder siebte Gefangene in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war zu Zwangsarbeit verurteilt. Viele der Sträflinge mussten in Eisenhütten, Silberminen oder Salzbergwerken schuften, Verkehrswege bauen, Wälder roden oder Sümpfe trockenlegen. Für Tausende bedeutete die Plackerei den Tod.
    Der amerikanische Autor George Kennan besichtigte 1885 verschiedene Straflager Sibiriens. Nach seinen Angaben lag die Sterberate unter den Zwangsarbeitern bei 30 bis 40 Prozent. In Zellen mit zwölf Insassen lagen Gesunde neben Kranken mit Typhus oder Tuberkulose. Der Schriftsteller Anton Tschechow inspizierte im Sommer 1890 drei Monate lang die Strafkolonien auf der russischen Insel Sachalin nördlich von Japan. Seine Eindrücke beschreibt er anschließend als »die wahre Hölle«: »Von den Arbeiten, die häufig bei schlechtem Wetter ausgeführt werden, kommt der Zuchthäusler mit nasser Kleidung und schmutzigem Schuhwerk zum Übernachten ins Gefängnis zurück; er kann sich nirgends trocknen. Sein Bauernpelz riecht nach Schaf, das Schuhwerk nach Leder und Teer. Die Wäsche, von den Hautausdünstungen durchtränkt, ist feucht und lange nicht gewaschen, die Fußlappen riechen erstickend nach Schweiß, und er selbst, der seit langem nicht gebadet hat, ist voller Läuse«.
    Im Rahmen eines neuen Strafgesetzbuchs wurden 1845 verschiedene Grade der Zwangsverschickung festgelegt: Verbannung zu befristeter oder unbefristeter Sträflingsarbeit, zur Ansiedlung an bestimmten Orten mit Verlust aller bürgerlichen Rechte, zeitweilige Verbannung mit geringfügigen Einschränkungen der Freiheit. Das zaristische Regime versuchte damit, soziale und politische Probleme im europäischen Russland zu lösen, verschob sie aber nur nach Osten. In den Weiten Sibiriens, außerhalb der wenigen größeren Städte, herrschte praktisch Gesetzlosigkeit. Die Verbannung war eine Brutstätte für Kriminalität.

    Arzt, Dichter, Humanist: Anton Tschechow
    (Foto ca. 1890)
    THE ART ARCHIVE
    Eine von der Moskauer Reichsregierung eingesetzte Kommission stellte 1898 fest, dass im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts jeder dritte Sträfling aus den sibirischen Gefängnissen und Lagern geflohen war. Überall trieben Banditen und Landstreicher ihr Unwesen, Räuberbanden überfielen Reisende und terrorisierten Dörfer. Dorfbewohner wiederum übten Lynchjustiz, wenn sie Verbrecher ergriffen, da Polizei nicht vorhanden oder korrupt war. Die Justiz setzte ein Kopfgeld auf jeden entflohenen Sträfling aus, unter Bauern und Jägern hieß es, »dass die Haut eines Sträflings mehr wert ist als das Fell eines Tieres«.
    Auch politisch Verfolgte waren unter den Flüchtlingen. So gelang dem Anarchisten Michail Bakunin, 1857 verbannt, eine abenteuerliche Flucht über Japan und die Vereinigten Staaten bis nach London. Insgesamt machten die »Politischen« jedoch nur einen kleinen Teil der Deportierten aus, im Jahr 1898 gerade einmal ein Prozent. Zu ihnen gehörten

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