Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
die Dekabristen, revoltierende Offiziere der kaiserlichen Armee, deren Umsturzversuch im Dezember 1825 schnell in sich zusammengebrochen war. Fünf der Verschwörer wurden gehängt, viele nach Sibirien geschickt, teils für 30 Jahre, teils zu Zwangsarbeit verurteilt. Die Ehefrauen von einem Dutzend Dekabristen folgten ihren Männern freiwillig und verloren ebenfalls ihre Bürgerrechte.
Alexander Puschkin, schon damals ein berühmter Dichter und ein Sympathisant der Aufrührer, schrieb 1827 sein »Sendschreiben nach Sibirien«. In dem unter späteren russischen Revolutionären beliebten Gedicht heißt es: »Harrt aus! Sibiriens Bergwerksnacht darf euren Stolz nicht niederzwingen! Was ihr erstrebt, so kühn gedacht, wofür ihr büßt, wird einst gelingen!« Für seinen Dichterkollegen Dostojewski sollten die Verse zwei Jahrzehnte später eine ganz persönliche Bedeutung erlangen. Im Jahr 1849 wird der Schriftsteller, nur weil er einem freiheitlichen Gesprächskreis angehörte, erst zum Tode durch Erschießen verurteilt, dann zu vier Jahren Verbannung begnadigt. Die Zeit im Gefängnis von Omsk, einer Stadt im Südwesten Sibiriens, bedeutet für ihn ein Leben im »Totenhaus«.
Er und die anderen Häftlinge werden in baufälligen Bretterbuden zusammengepfercht, im Winter ist es eisig kalt, im Sommer glühend heiß. Tags muss er arbeiten, die Festung ausbauen, Schnee schaufeln. Nachts liegen die Gefangenen auf verdreckten Betten »wie die Heringe in einem Fass«. Viele sind krank, alle werden von Ungeziefer geplagt, kaum einer gewöhnt sich an die Schaben in der Suppe. Seine Mitgefangenen sind Mörder und Räuber, »rohe, gereizte und erbitterte Menschen«, die stinken »wie die Schweine«. Dostojewski zittert vor sadistischen Wärtern, die im Rausch haltlos auf Häftlinge einprügeln. Diese traumatischen Erfahrungen tragen sicherlich dazu bei, zu erklären, warum sich der anfangs liberale Dichter später in einem nationalen Patrioten verwandelte.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts steigt die Zahl der politischen Verbannten, bedingt durch Attentate von Revolutionären und Anarchisten und die aufgeheizte gesellschaftliche Lage, vor allem nach der Ermordung des Zaren Alexander II. 1881. Auch nach den Streiks und Unruhen zwischen 1905 und 1907 lässt Zar Nikolai II. Tausende politische Gegner nach Sibirien verfrachten. Viele dieser Abgeschobenen mussten allerdings weder im Gefängnis sitzen noch Zwangsarbeit leisten. Weit entfernt von ihrer Heimat arbeiteten manche sogar in ihren erlernten Berufen als Buchhalter, Ärzte, Apotheker, Juristen. Oder sie versuchten, sich als Bauern oder Handwerker durchzuschlagen. Diese noch humanen Umstände mindern nicht das Grauen, das Hunderttausende in Sibirien erleiden mussten. Jedoch ist die Verbannung zur Zarenzeit nicht mit dem Gulag der stalinistischen Sowjetunion gleichzusetzen, dem mörderischen Lagersystem mit seinen Millionen von Toten.
Für viele politisch Verfolgte war allein die Abgeschiedenheit eine schlimme Strafe. Wladimir Sensinow, ein studierter Ökonom und Sozialrevolutionär, wurde 1912 das dritte Mal verbannt – in ein ostsibirisches Kaff namens Russkoje Ustje, in dem gerade einmal 22 Menschen wohnten. »Ich zweifelte daran, dass es einen Fleck auf der Erde gab, der weiter von der Zivilisation entfernt war«, schreibt er in einem Aufsatz, der 1924 in der US -Zeitschrift »National Geographic« erschien. »Es gab nicht einen Menschen, der lesen oder schreiben konnte. Antwort auf meine Korrespondenz kam nach frühestens eineinhalb Jahren, und das auch nur über spezielle Boten. So weit das Auge reichte, gab es nur Schnee, Schnee, Schnee.«
Ein angenehmeres Leben konnten hingegen die Verbannten genießen, die über Geld verfügten. Zu ihnen zählte unter anderem Lenin, der, weil er die illegale Zeitung »Sache der Arbeiter« verbreitet hatte, 1897 für drei Jahre nach Schuschenskoje in Südsibirien geschickt worden war. In einem Brief berichtet er: »Ich lebe hier nicht schlecht, widme mich eifrig der Jagd.« Außerdem verwende er »neben der Jagd und dem Baden einen großen Teil der Zeit für Spaziergänge«. Seine Frau und Mitstreiterin Nadeschda Krupskaja, die er in der Verbannung heiratete, schreibt in ihren Erinnerungen: »Sonntags hielt er (Lenin) juristische Beratungsstunden bei sich ab. Bauern und Bäuerinnen kamen und brachten ihre Anliegen vor. Faktisch bestand überhaupt keine Aufsicht.« Sie und Lenin »mieteten für vier Rubel ein halbes Haus mit
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