Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
eigens Karteikarten mit Fragen zu Alter, Herkunft, Familienstand der Strafkolonisten und Ähnlichem drucken lassen. Der Kommandant hatte ihm die Untersuchung in aller Freundlichkeit genehmigt, nicht ohne zeitgleich einen geheimen Erlass an seine Untergebenen in Alexandrowsk und Tymowsk zu schicken: Sie sollten die Aktivitäten des Schriftstellers präzise überwachen.
Tschechow fiel sein Forschungsprojekt nicht leicht. Die Auspeitschung, der er beiwohnte, konnte er kaum aushalten. Mehrfach verließ er das Zimmer, in den darauffolgenden Nächten fand er kaum Schlaf. An einer Hinrichtung teilzunehmen, traute er sich gar nicht erst zu. Doch am Schluss schätzte er sich glücklich, jeden einzelnen der über zehntausend Katorga-Häftlingen in seine Karteikarten aufgenommen zu haben. Seinem Verleger schreibt er am 11. September 1890: »Mit anderen Worten, es gibt auf Sachalin keinen Sträfling oder Strafkolonisten, der nicht mit mir gesprochen hätte.«
Seine Ergebnisse publiziert Tschechow in dem Buch »Die Insel Sachalin«, das zuerst, weil zensiert durch die Hauptgefängnisverwaltung, nur in einzelnen Kapiteln in der liberalen Monatszeitschrift »Russkaja mysl« (»Russisches Denken«) erscheint, doch schließlich 1895 komplett. Dabei bemüht sich Tschechow, seine Beschreibung bewusst lakonisch und sachlich zu halten. Selbstkritisch hat er alle Aperçus aus dem Manuskript gestrichen, die von Anteilnahme oder Unmut zeugen.
Das Buch ist eines der umfangreichsten, die Tschechow geschrieben hat, und es enthält eine Fülle an Daten, Fakten und Beobachtungen. Man erfährt, wie das Prinzip der Katorga funktioniert, wie aus Häftlingen erst Strafkolonialisten werden, dann Deportationsbauern und schließlich Freie, warum den Sträflingen die halbe Kopfhaut rasiert wird, dass die Ehefrauen ihren verbannten Gatten folgen dürfen und dass es viele Kinder, ja sogar Schulen auf der Insel gibt: »Die Kinder auf Sachalin sind blass, mager und schwächlich; sie tragen abgerissene Kleidung, haben ständig Hunger und sterben fast ausschließlich an Erkrankungen der Verdauungswege.« Diese Kleinen haben es Tschechow besonders angetan. Nach seiner Rückkehr sammelt er, paralysiert geradezu von ihrem Elend, bei Freunden und öffentlichen Stellen wie dem Alphabetisierungskomitee, Hunderte Lehr- und Lesebücher und lässt sie nach Sachalin schicken.
Die Geschichten, die Tschechow in seinem Buch erzählt, sind von tiefer Tragik und zugleich von gewisser Komik. Dadurch treffen sie mitten ins Herz. So berichtet er von dem Bauern Wukol Popow, der zu Zwangsarbeit verurteilt wurde, weil er seine Ehefrau mit seinem Vater im Bett überrascht und den Vater im Affekt erschlagen hatte. Auf Sachalin nun verliebte sich Popow abermals, doch seine Frau, die in der Heimat zurückgeblieben war, willigte nicht in die Scheidung ein. Daraufhin verlobte sich Popows neue Liebe mit einem anderen. Als er davon erfuhr, vergiftete er sich mit Eisenhut. Zwei Wochen vor seinem Tod soll Popow noch geklagt haben: »Wegen eines Weibes bin ich in die Katorga gekommen, und hier muss ich wahrscheinlich wegen eines Weibes Schluss machen.«
Tschechow zeigt, dass die Katorga inhuman und sinnlos ist. Wer Menschen in die Verbannung schickt und sie mit Dunkelhaft und Prügel bestraft, so der Dichter, wird niemals Reue erwirken oder gar den Wunsch nach Besserung, sondern höchstens Scham und mangelnde Selbstachtung. Sein Buch hinterließ bei seinen zeitgenössischen Lesern starke Wirkung, ist allerdings heute eines seiner weniger bekannten Werke. Die Lage der Strafgefangenen vermochte er nicht zu ändern. Zwar begab sich Michail Nikolajewitsch Galkin-Wraskij, Chef der Hauptgefängnisverwaltung, 1894 zur Inspektion auf die Insel und bestätigte einige Beobachtungen Tschechows. Grundsätzlich aber fand er das System in Ordnung.
Anschluss verpasst
Die Eisenbahn kam mit Verspätung.
Das Schienennetz wurde vor allem unter
militärstrategischen Aspekten ausgebaut – aber
als Kriege ausbrachen, waren die
entscheidenden Strecken noch nicht fertig.
Von Norbert F. Pötzl
V oller Tatendrang reiste der österreichische Ingenieur Franz Anton Ritter von Gerstner 1834 nach Russland. Der 38-Jährige, der seine Wiener Professur für praktische Geometrie zehn Jahre zuvor aufgegeben hatte, um den Bau der ersten kontinentaleuropäischen Eisenbahn zwischen Linz und Budweis zu leiten, präsentierte Zar Nikolai I. einen ehrgeizigen Plan: die Weiten Russlands durch ein mehrere tausend Kilometer
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