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Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht

Titel: Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klußmann
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Gemüsegarten und Hof. Hier führten wir einen regelrechten Familienhaushalt.« Für einen Tag notiert sie: »Nach dem Mittagessen schrieben wir beide etwa zwei Stunden lang die ›Entwicklung des Kapitalismus in Russland‹ ins Reine.« So ging der Kampf für den Sturz der zaristischen Herrschaft auch in der Verbannung weiter.

»Millionen Menschen verfaulen«
    Der Schriftsteller Anton Tschechow
reist 1890 auf die Gefängnisinsel Sachalin und
schreibt einen erschütternden Bericht.
    Von Christine von Brühl
    M itte Mai ist es, und Anton Pawlowitsch Tschechow, der russlandweit bekannte Schriftsteller und Arzt, steht verlassen am Ufer des Tom, unweit dem heutigen Nowo Sibirsk, und wartet auf das Fährboot. Die Frühjahrsschmelze hat begonnen, die sibirischen Flüsse sind über die Ufer getreten, und niemand, schon gar nicht der Kutscher, der Tschechow an diese Stelle gebracht hat, weiß, wo die Fähre genau anlegen wird. Der Reisende nimmt es hin. Seine Filzstiefel triefen vor Nässe, weder Halbpelz noch Ledermantel schützen ihn hinreichend vor der Kälte, seine Haut brennt, und er leidet an Verstopfung, doch er möchte nur eines: auf die Insel Sachalin gelangen. Sie liegt im äußersten Osten des Reiches, rund 10000 Kilometer über Land von Moskau entfernt, und beherbergt eine Strafkolonie. Immerhin die Hälfte des Weges hat Tschechow schon geschafft.
    Was er auf Sachalin will, das versteht kein Mensch. Die Familie des 30-Jährigen, seine Lieblingsschwester Mascha, sein Verleger Alexej Sergejewitsch Suworin – alle haben ihm davon abgeraten. Seine Gesundheit sei schließlich nicht die beste, die weite Reise beschwerlich, dazu der Aufenthalt unter den Häftlingen sicher auch gefährlich. Diese Insel interessiere doch niemanden. Zornig hatte sich Tschechow zur Wehr gesetzt: »Sachalin nicht brauchen und uninteressant finden, kann nur eine Gesellschaft, die die Menschen nicht zu Tausenden dorthin verbannt und die nicht Millionen dafür ausgibt«, schrieb er Suworin vor seiner Abreise. »Aus den Büchern, die ich gelesen habe und lese, geht hervor, dass wir in den Gefängnissen Millionen Menschen haben verfaulen lassen, umsonst verfaulen, ziellos, barbarisch; wir haben die Menschen in Ketten Zehntausende Werst durch die Kälte getrieben, sie mit Syphilis angesteckt, demoralisiert, Verbrecher vermehrt – und all das auf die rotnasigen Gefängnisaufseher abgewälzt. Heute weiß das gesamte gebildete Europa, dass nicht die Aufseher schuld sind, sondern wir alle.«
    Drei Monate verbringt Tschechow schließlich auf der Insel, von Juli bis Oktober 1890. Er besucht jede Ortschaft, jedes Haus, jede Hütte, jeden einzelnen Häftling und macht sich Notizen über Notizen. Er schaut sich die Gefängnisse und die Siedlungen an, die Dunkel-, Einzel- und Gruppenzellen, besichtigt Kettenhäuser und Latrinen, sieht bei der Essensverteilung zu und leistet Hilfe in der gänzlich unterversorgten Krankenstation. Er findet Quartiere vor, die so voller Wanzen sind, dass sich die Zimmerdecke zu bewegen scheint, und spricht mit Häftlingen, die in den Kohlebergwerken arbeiten müssen, in Stollen, so niedrig, dass sie sich darin nur auf Händen und Knien fortbewegen können. Katorga heißt ihre Strafe, Zwangsarbeit.
    Geduldig lässt er sich von Gefangenen, die zur Strafe an grobe Holzkarren gekettet worden sind, beschreiben, wie sie mit dieser Einschränkung nachts überhaupt schlafen können. Sie müssten jeweils am Rand der Gemeinschaftspritsche liegen, erklären sie ihm, damit sie ihren Karren während der Nacht unter die Liege schieben könnten.
    Tschechow schreibt alles auf: »Weiter leben in der Hütte selbst etwa fünf Männer, von denen sich jeder anders bezeichnet: dieser als Mieter, jener als Arbeiter und mancher als Hausgenosse. Der eine steht neben dem Ofen und lötet irgendetwas, wobei er die Wangen aufbläst und die Augen aufreißt; ein zweiter, offenbar ein Spaßmacher mit gemacht dummer Physiognomie, murmelt etwas, und die anderen lachen hinter der vorgehaltenen Hand. Auf dem Bett sitzt die Babylonische Hure, die Hausfrau selbst, Lukerja Nepomnjaschtschaja, zerzaust, hager und sommersprossig; sie bemüht sich, meine Fragen möglichst komisch zu beantworten, und baumelt dabei mit den Beinen.«
    Zutritt zu den Sträflingen verschaffte Tschechow ein Schreiben des Inselkommandanten Wladimir Ossipowitsch Kononowitsch, dem der Schriftsteller erklärt hatte, er wolle eine Bevölkerungszählung durchführen. Dazu hatte sich Tschechow

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