Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
umfassendes Schienennetz zu erschließen. Das neue Transportmittel werde vor allem der Entwicklung der Landwirtschaft und des Verkehrs zugutekommen, sagte Gerstner. Doch die Bedenkenträger bei Hofe bremsten. Finanzminister Georg Kankrin, ein deutsch-russischer Nationalökonom, argumentierte, eine Eisenbahn trage nicht zur Wohlfahrt des Volkes bei. Immerhin durfte Gerstner eine 23 Kilometer lange Versuchsstrecke zwischen der Hauptstadt St. Petersburg und der Sommerresidenz des Zaren in Zarskoje Selo bauen. Damit sollte getestet werden, ob Eisenbahnen den starken Temperaturschwankungen standhalten könnten. Wenige Jahre zuvor hatte eine Regierungskommission nach »eingehenden Beratungen« noch apodiktisch behauptet, »dass die klimatischen Verhältnisse Russlands die Anlage von Eisenbahnen unmöglich machen«.
Am 30. Oktober 1837 wurde die Bahnverbindung offiziell eröffnet. Gerstner selbst steuerte die englische Dampflokomotive; der aus acht Waggons bestehende Zug mit Ehrengästen erreichte sein Ziel in 35 Minuten. Nach einem Lunch zeigte Gerstner den Passagieren auf dem Heimweg laut einem Zeitungsbericht, »welcher Leistung die Eisenbahn fähig sey, indem er den Train in 28 Minuten zurückführte«. Im Sommer des folgenden Jahres wurde eine vier Kilometer lange Erweiterung nach Pawlowsk eingeweiht. Der Ort entwickelte sich rasch zu einem beliebten Ziel von Ausflüglern aus der Hauptstadt. Der Endbahnhof war zugleich Kursaal und Konzertgebäude, wo berühmte Musiker wie Johann Strauß (Sohn), Franz Liszt und Robert Schumann auftraten. Finanzminister Kankrin lästerte, die erste Bahn Russlands führe in ein Vergnügungsviertel, während sie in allen anderen Ländern industrielle Zentren erschließe. Die Höflinge belächelten die »Wirtshausbahn«, die sie auch »Gerstners Spielzeug« nannten.
Den Klimatest bestand die Bahn jedenfalls. Obwohl es rund um St. Petersburg »nichts Seltenes« sei, dass es »in einem Tage einen Temperaturunterschied von 20 Réaumur« (25 Grad Celsius) und »im Winter zeitweise die heftigsten Schneegestöber« gebe, habe die Bahn »diesen Elementen nun schon während zwei Wintern und einem Sommer getrotzt«, notierte Gerstner 1838. Die beharrenden Kräfte am Zarenhof widersetzten sich weiter dem Zug der Zeit. Beim Güterverkehr baute man traditionell auf die Flussschifffahrt – auch wenn das Getreide, das auf der Wolga aus dem Süden transportiert wurde, erst im Jahr nach der Ernte in der Hauptstadt ankam, da die Kähne winters im Eis einfroren. Die Beförderung von Menschen mit der Eisenbahn schien aufgrund der dünnen Besiedlung des Landes allenfalls im Umkreis größerer Städte rentabel.
Doch wirtschaftliche Gründe wogen für den Zaren ohnehin nicht so schwer wie machtstrategische: Auf Schienen, erkannte Nikolai I. , würde man das Kaspische Meer von St. Petersburg aus in zwei Wochen erreichen. Die Eisenbahn, kalkulierte er, würde Russland gegenüber Großbritannien einen Vorteil beim Zugang zum Persischen Golf verschaffen. Dennoch genehmigte der Zar 1839 zunächst die Verbindung zwischen Warschau, das damals zu seinem Imperium gehörte, und der österreichisch-ungarischen Grenze. Eine ihrer ersten Aufgaben war die Beförderung russischer Truppen, um den ungarischen Aufstand 1848 niederzuschlagen.
Am 1. Februar 1842 ordnete der Zar den Bau einer Verbindung von St. Petersburg nach Moskau an, die später nach ihm »Nikolaibahn« genannt wurde. Im Sommer 1843 begannen die Bauarbeiten. 1851 war die 650 Kilometer lange Strecke fertig. Die Trasse hatte der Legende nach der Zar persönlich mit einem Lineal gezogen. Nur an vier Stellen wich die Streckenführung von der schnurgeraden Linie ab – angeblich, weil hier die Finger des Zaren das Lineal hielten. Nowgorod, jahrhundertelang das wichtigste Handelszentrum Russlands, wurde nicht an die Bahnlinie angeschlossen, weil dies einen Umweg von 37 Kilometern erfordert hätte. Dass die Stadt ohne Bahnanschluss bleiben sollte, werde deren Situation nicht verschlechtern, sagte der Zar, dem vor allem an einer schnellen Verbindung gelegen war. Tatsächlich setzte mit dem Bau der Eisenbahn der Niedergang Nowgorods ein.
Der erste Reisezug, der im November 1851 von St. Petersburg nach Moskau fuhr, benötigte 21 Stunden und 45 Minuten. Eine Heizung war nicht installiert, stattdessen wurden Metallkisten mit heißen Ziegelsteinen neben die Füße der Passagiere gestellt. Der Ingenieur Pawel Melnikow, der schon den Bau des nördlichen Teils der
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