Die Herrschaft der Zaren - Russlands Aufstieg zur Weltmacht
Nikolaibahn geleitet hatte, plante gleich die Fortsetzung der Strecke von Moskau zur Krim, 3000 Kilometer lang. Doch die Regierung beschloss, erst die Verbindung von St. Petersburg nach Warschau zu bauen. Auch die erfüllte bald ihren militärischen Zweck: Bei der Unterdrückung des polnischen Aufstands 1863 ermöglichte der Schienenweg eine rasche Verlegung russischer Truppen.
Dass die Westbahn der südlichen Verlängerung vorgezogen worden war, rächte sich im Krim-Krieg (1853 bis 1856). Als sich Russland Teile des zerfallenden Osmanischen Reiches einverleiben wollte, auf dessen Seite Großbritannien und Frankreich in den Konflikt eingriffen, konnten Soldaten und Material nicht schnell genug ins Kriegsgebiet transportiert werden. Das Debakel förderte die Einsicht am Zarenhof, dass die Verkehrsverhältnisse dringend verbessert werden mussten. Doch der Krieg hatte die Staatsfinanzen dermaßen zerrüttet, dass man sich den Bau der gewünschten Bahnen nun nicht leisten konnte. Also brauchte man private Investoren, die mit üppigen Zinsgarantien des russischen Staates angelockt wurden.
So entstand ein zersplittertes System von Privatbahnen. Beispielsweise konnten sich die Betreiber der Nikolaibahn sowie der Strecken nach Jaroslawl und Rjasan nicht auf einen gemeinsamen Moskauer Bahnhof einigen – mit der Folge, dass am heutigen Komsomolskajaplatz jede Gesellschaft ihren eigenen Bahnhof baute. Es herrschte zudem ein Durcheinander unterschiedlicher Spurweiten. Gerstner hatte die Zarskoje-Selo-Bahn mit 1829 Millimeter Spurweite angelegt, die Warschau-Wien-Bahn wurde der sich allmählich durchsetzenden mitteleuropäischen Norm von 1435 Millimetern angepasst, die Nikolaibahn fuhr auf 1524 Millimeter breiten Gleisen – was in Russland dann die gängige Spurweite wurde.
Technisch bot die breitere Spur keine nennenswerten Vorteile. Die Waggons fassten kaum mehr Passagiere, und die Begründung, die Züge könnten schneller fahren, wirkte vorgeschützt – bei einem Reisetempo um die 30 Kilometer pro Stunde fiel das kaum ins Gewicht. Tatsächlich gaben wieder militärische Aspekte den Ausschlag: Die Russen fürchteten sich vor Angreifern. Feinde aus einem Normalspurland, so die Annahme, könnten bei einem Einfall in Russland schwerlich neun Zentimeter breitere Achsen in die Radaufhängungen ihrer Waggons einbauen; sollten hingegen russische Züge auf westlicher Normalspur rollen, würde sich ein Austausch gegen Achsen mit geringerem Radabstand leichter bewerkstelligen lassen. Da unterlief den Strategen jedoch ein Denkfehler. Denn es war, wie der britische Eisenbahnhistoriker John Norton Westwood feststellte, »für einen Eindringling viel leichter, eine Schiene des russischen Breitspurgleises nach innen zu verschieben, als umgekehrt für die Russen, in besetzten Gebieten die Normalspur zu erweitern«.
Jahrzehntelang dominierte beim Eisenbahnbau die militärische Funktion. Erst 1876 beauftragte Zar Alexander II. eine Kommission, »das Eisenbahnwesen Russlands gründlich zu erforschen« und »zu ermitteln, ob die Eisenbahn dem Handel und der Industrie den erwarteten Nutzen« bringe. Zu dieser Zeit waren anderswo Zweifel an den ökonomischen Vorteilen des Verkehrsmittels längst ausgeräumt. Dennoch prüfte die Kommission neun Jahre lang.
Russland hatte den Anschluss an die Moderne verpasst. Bis 1880 waren im europäischen Teil knapp 24000 Gleiskilometer in Betrieb – das entsprach gerade mal zwei Dritteln des deutschen Schienennetzes oder einem Sechstel des US -amerikanischen. Nun sollte auch der ferne Osten des Imperiums an das russische Machtzentrum angeschlossen werden. Die Transsibirische Eisenbahn war (und ist bis heute) mit 9288 Kilometer Länge von Moskau bis Wladiwostok das größte Eisenbahnprojekt der Welt. Um dessen Bedeutung zu unterstreichen, beauftragte Alexander III. den Kronprinzen, seinen späteren Nachfolger Nikolai II. , im Mai 1891 in Wladiwostok den ersten Spatenstich vorzunehmen. Im selben Jahr veranlasste eine große Hungersnot viele russische Bauernfamilien, in die fruchtbaren Regionen jenseits des Ural auszuwandern. Die meisten Siedler ließen sich in Westsibirien nieder. Dort konnten Getreide und Milchprodukte für die Märkte im europäischen Teil Russlands und im Ausland billig erzeugt werden. Eine Eisenbahn nach Sibirien erschien daher unter wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkten sinnvoll.
Für die Gebiete östlich von Omsk galt dies freilich nicht. Der Fischfang an der pazifischen
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