Die Herzensbrecherin: Roman (German Edition)
Schrei wählte die vernünftige, korrekte Susannah Faulconer ihr Schicksal.
ERSTES BUCH
Die Vision
Was immer du tun kannst oder du träumst – fange es an. In der Kühnheit liegt Genie, Macht und Magie.
JOHN ANSTER (1835),
freie englische Übersetzung von Goethes »Faust I«
1
Susannahs leiblicher Vater war nicht Joel Faulconer, sondern ein Engländer namens Charles Lydiard, der ihre Mutter 1949 während eines Besuchs in New York City kennen gelernt hatte. Kurz zuvor war Katherine »Kay« Bennetts Vater, ein reicher Financier, gestorben. Die bildschöne junge Schickeria-Lady entdeckte Lydiard auf der Yacht eines Freundes. Lässig lehnte er an der Mahagonireling des Achterdecks, rauchte eine türkische Zigarette und nippte an einem Gibson. Stets auf der Suche nach attraktiven ungebundenen Männern, ließ sich Kay sofort mit ihm bekannt machen. Noch vor dem Ende des Abends verliebte sie sich in seine fein gemeißelten aristokratischen Züge und sein zynisches, melancholisches Wesen.
Besonders scharfsinnig war sie nicht. Deshalb fand sie erst ein Jahr nach der Hochzeit heraus, dass sich ihr eleganter Ehemann eher zu künstlerisch veranlagten jungen Männern hingezogen fühlte als zu ihrem eigenen verführerischen Körper. Unverzüglich zog sie mit ihrer zwei Monate alten Tochter in das Penthouse ihrer verwitweten Mutter in der Park Avenue. Um den ganzen unerfreulichen Zwischenfall zu vergessen, stürzte sie sich hektisch in gesellschaftliche Aktivitäten. Außerdem tat sie ihr Bestes, um auch das kleine Mädchen mit dem ernsten Gesicht zu vergessen, das sie so schmerzlich an ihr mangelndes Urteilsvermögen erinnerte.
Charles Lydiard starb 1954 bei einem Bootsunfall. Um diese Zeit lebte Kay bereits in San Francisco. Kurz davor
hatte sie Joel Faulconer geheiratet, einen kalifornischen Industriellen. Vollauf damit beschäftigt, ihren virilen jungen Gatten zu beglücken, verschwendete sie keinen Gedanken an das Schicksal ihres enttäuschenden ersten Ehemanns. Sie dachte auch nicht an ihre dreijährige Tochter, die sie ihrer alten Mutter anvertraut hatte.
Und so wuchs Susannah Bennett Lydiard auf der anderen Seite des Kontinents zu einem ernsthaften Mädchen mit grauen Augen, schmaler Nase und kastanienrotem, zu zwei strammen Zöpfen geflochtenem Haar heran. Als sie vier Jahre alt war, brachte sie sich die Kunst des Lesens bei und lernte die hohen Räume im Penthouse ihrer Großmutter möglichst lautlos zu durchqueren. Wie ein Schatten huschte sie an den großen Fenstern vorbei, deren schwere Samtvorhänge stets geschlossen blieben, um die vulgären Geräusche des großstädtischen Straßenverkehrs zu dämpfen. Ihre Schritte auf den dicken alten Teppichen glichen einem Flüstern, und sie führte ein ebenso stilles Leben wie die ausgestopften Singvögel, die unter Glaskuppeln auf polierten Tischen prangten.
Allmählich verlor Großmutter Bennett den Verstand. Zu jung, um das zu begreifen, wusste Susannah nur, dass die alte Dame strikte Regeln aufgestellt hatte. Wenn man dagegen verstieß, wurde man streng bestraft. Ein frivoles Kind habe sie bereits großgezogen, betonte die Witwe, und sie würde sich nicht mit einem zweiten belasten.
Die Mutter des kleinen Mädchens kam zweimal im Jahr zu Besuch. An solchen Tagen ging Susannah nicht wie üblich mit einem der älteren Dienstboten ihrer Großmutter einmal um den Häuserblock, sondern trank mit Kay Tee im Plaza. Die Mutter war sehr schön. Fasziniert beobachtete das Kind, wie sie eine Zigarette nach der anderen rauchte und alle paar Minuten auf ihre funkelnde, mit Diamanten besetzte Armbanduhr schaute.
Sobald die Teekanne leer war, wurde Susannah nach Hause gebracht. Pflichtbewusst küsste Kay die Stirn ihrer Tochter und verschwand für weitere sechs Monate. Die Großmutter erklärte, weil Susannah so unartig sei, dürfe sie nicht bei ihrer Mutter leben.
Sicher, Susannah war furchtbar unartig. Manchmal berührte sie an der Dinnertafel ihre Nase. Oder sie saß nicht kerzengerade. Gelegentlich vergaß sie, »bitte« und »danke« zu sagen. Für jedes dieser Vergehen wurde sie bestraft und für eine ganze Stunde in einem Schrank eingesperrt. Das würde zu ihrem eigenen Wohl geschehen, behauptete die Großmutter. Aber das Mädchen fragte sich, warum etwas so Grausames gut sein sollte.
Der Schrank war klein und stickig. Noch schlimmer – Großmutter Bennetts alte Pelzmäntel hingen darin. Für ein Kind mit reger Fantasie verwandelte sich die beengte Finsternis
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