Die Herzensdiebin
zugegeben, es war noch schäbiger als damals, aber jetzt war sie so kurz vor ihrem Ziel, dass sie es förmlich greifen konnte.
In gewisser Hinsicht kam sie sich schlecht vor, dieses junge Ding zu belügen. Sie kannte sie seit Jahren, und Meadow war so gutgläubig und offenherzig wie ihre Eltern.
Auf der anderen Seite war Meadow auch so talentiert wie ihre Eltern, und das rief dieses Brennen in Judiths Magen hervor. Das war nicht fair — warum einige Genies waren und andere ... andere eben nur gut . In der Kunstszene wurde man international gefeiert, wenn man ein Genie war. War man einfach nur gut , war man vielleicht regional bekannt und fand sein eigenes Gemälde mit etwas Glück in einem Restaurant wieder, mit einem Preisschildchen am Rahmen, auf dem zweihundert Dollar stand.
Das war nicht das, was Judith erwartet hatte. Ihr ganzes Leben hatte sie versucht, etwas Besonderes zu sein. Sie wollte, dass die Leute — die Kritiker — sie wahrnahmen, sie lobten und ihr Anerkennung zollten. Und vor zwanzig Jahren, fünf Jahre nach dem Collegeabschluss, hatte sie der harten Realität ins Auge sehen müssen. Sie war kein Genie — also hatte sie versucht, andere Wege zum Ruhm einzuschlagen.
Sie wollte ein verloren geglaubtes Meisterstück wiederfinden.
Das war nicht allzu schwierig. Es war machbar. Dafür musste man einige Nachforschungen anstellen und den Willen haben, Gerüchten auf den Grund zu gehen. Natürlich hatten sich nicht alle Gerüchte ausgezahlt, und Judith hatte viel Zeit damit zugebracht, ziemlich lausige Kunstwerke zu begutachten, die nur als Meisterwerke deklariert wurden.
Ungefähr ein. Jahr später war ihr berichtet worden, dass die berühmte Künstlerin Isabelle angeblich ein Meisterwerk hinterlassen hatte. Ein Gerücht war zum anderen gekommen, und schließlich hatte sie der alten, verbitterten Kinderfrau Mrs. Graham so viel Drinks spendiert, bis sie endlich Gewissheit hatte. Dieses Meisterwerk gab es wirklich: Es hing in der großen alten Villa Waldemar.
Aber Mrs. Graham war so schwerhörig, dass sie jedes Wort hinausschrie, und obendrein war sie eine echte Säuferin. Sie hätte ihr Wissen an jeden weitergegeben, der genug Bargeld auf den Tisch legte, damit sie sich mit Sekt und Brezeln eindecken konnte. Judith war keine Wahl geblieben, und mal ehrlich: Es war ihr an jenem Abend nicht schwergefallen, dem zwölften Glas der Alten etwas Rattengift beizumengen. Als die Polizei die Frau am nächsten Tag in der Gasse vor der Bar fand, wurde der Leichnam fortgeschafft, und dem Gutachten zufolge war Mrs. Graham eines »natürlichen Todes« gestorben.
Die Leute in den Südstaaten wussten, wie man die hässliche Seite des Lebens vertuschte.
Als Judith dann in Waldemar House eingebrochen war, hatte sie kein Gemälde gefunden, das auf die Beschreibung gepasst hätte. Allerdings war sie an jenem Abend von einem Hund gebissen worden, und der wutentbrannte Bradley Benjamin hatte eine genaue Beschreibung des Einbrechers liefern können. Aus diesen Gründen hatte sie sich nicht getraut, einen zweiten Einbruchversuch zu unternehmen.
Also war sie die ganze Sache anders angegangen. Sie hatte sich auf den Weg gemacht, die Papiere der berühmten — und berüchtigten — Künstlerin Isabelle zu finden ... und stieß stattdessen auf Isabelles angeblich tote Tochter.
Es war einfach alles zu perfekt ausgedacht. Die große alte Künstlerin Isabelle hatte verkünden lassen, ihre Tochter sei im Alter von vier Jahren bei einem Autounfall in Irland ums Leben gekommen. Daraufhin hatte sie Sharon »adoptiert« und für eine Zeit aus dem Scheinwerferlicht herausgehalten. Seitdem hatte Sharon ein Dasein in der Öffentlichkeit geführt, war der Presse nicht unbedingt aus dem Weg gegangen, hatte die Nähe zu den Medien aber auch nicht gesucht.
Nachdem Sharon den Künstler River Szarvas geheiratet hatte, hatte das Paar das Geld genutzt, das Isabelle mit ihren Kunstwerken verdiente, um eine Künstlerkolonie zu gründen. Jedes Talent sollte gefördert und die nächste Generation von Genies ausgebildet werden. Sie gewährten Stipendien und gaben ihr Wissen an ihre Nachfolger weiter. Verdammt noch mal, immer hingen irgendwelche jungen Leute bei ihnen zu Hause herum, die sich für Künstler hielten. Sie schliefen auf dem Fußboden, ließen sich durchfüttern und sprachen mit leuchtenden Augen über ihre Kunst ... Daher war es nicht schwer gewesen, in dem Haus in Blythe aufzutauchen und als Judith einzuziehen — als eine junge
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