Die Hexe aus Burgund: Historischer Roman (German Edition)
reinigten Kunigund und er gerade mit Seifenbrühe den flachen Marmorsockel der Dingglocke. Und als sich Kunigund hochreckte, um mit dem Lappen den unteren Rand der Glocke abzuwischen, tauchte hinter einem Eichenstamm der Wärter auf und stürzte donnerwetternd auf sie zu: „Idiotin! Doch nicht mit Seife an Messing!“
Er langte nach ihrem Arm, sie riss wütend ihren Arm zurück und holte zum Schlag aus - den Waldur reaktionsschnell abfing. Der Wärter wollte erneut nach ihr greifen, weshalb Waldur ihn mit beiden Händen bei den Schultern packte, so fest, dass sich des kleinen Wärters Gesicht verzerrte. Dann hob Waldur kurz entschlossen den ganzen Mann an und trug ihn fort, Schritt für Schritt, bis zu dem Eichenstamm, hinter dem er sich versteckt hatte. Der vor Schreck stocksteif gewordene Wärter gab keinen Pieps mehr von sich, nicht mal, als Waldur ihn am Ende hart auf die Füße stellte. Waldur blickte ihn warnend an, wissend, wie sehr der Wärter seine Phosphoraugen fürchtete, und der verschraubte sich auch wie ein gefangener Wurm unter diesem Blick.
Doch hier ging es um Kunigund, Waldur eilte zu ihr. Bei der gänzlich Verstörten angelangt, nahm er sie ruhig bei den Händen und regte sie gedanklich an: ‚Tief durchatmen’, und mache ihr es vor. Sie befolgte sogleich seinen Rat, wonach er fortfuhr: ‚Ja, tief atmen, vor allem kräftig ausatmen. Atme alles raus, allen Ärger, alle Aufregung - raus damit!’
Sie atmeten im Duett, wobei sich Kunigunds Gesicht zusehends lockerte, bis ihr Atmen normal wurde und sie Waldur dankbar anlächelte. Eine Weile standen sie sich noch gegenüber - sollen wir uns jetzt wieder unserer Putzarbeit zuwenden, so, als sei nichts geschehen? - Ja, sollen wir, gab sie ihm mit einer Geste zu verstehen.
Sie griffen gerade wieder nach ihren Lappen, als der Wärter böse zu Waldur hinkeifte: „Warte, du Held, das hast du nicht umsonst gemacht!“
Dann stapfte er schadenfroh in Richtung Tempel, womit er Waldur demonstrierte, er werde den Vorfall den Druiden melden. - Was wird die Folge sein?
B ange Stunden vergingen. Doch als Waldur am Mittag Ethne begegnete, tat sie ihm zu seiner Überraschung kund, sie habe dem Bericht des Wärters entnommen, dass er, Waldur, den Unterschied zwischen Gleichgültigkeit und Gleichmut begriffen habe.
Im Laufe der kommenden Wochen begriff Waldur noch Entscheidenderes: Nicht die üblen Eigenschaften eines Menschen kann und soll man lieben, vielmehr den Menschen selbst. Ebenso wie Ragna jedes Geschöpf uneingeschränkt liebt, wobei Ragna selbst nicht ein Makel anhaftet, ganz im Gegensatz zu jedem einzelnen Menschen.
Dank dieser Erkenntnis gelang es Waldur bald, für den verbiesterten Platzwärter Nachsicht und mit der Zeit sogar Wohlwollen aufzubringen. Und siehe da, im gleichen Maße wurde der Wärter umgänglicher.
Nur bei Hermod, dem Waldur anfangs solche Sympathie entgegengebracht hatte, wollte ihm das nicht immer gelingen. Wieder hatte Hermod ihm seine Schnitzarbeit weggenommen, diesmal sogar mit der provozierenden Frage, ob er auf diese Arbeit etwa stolz sei. Waldur hasste ihn dafür.
Doch bereits am nächsten Morgen reute Waldur dieser momentane Hass zutiefst. Deshalb trat er nach der Frühmeditation vor Hermod und bat ihn stumm um Verzeihung. Darauf strahlte Hermod ihn so warm an, dass sich - Waldur gewahrte es mit überirdischer Freude - sein Lotosherz für einen Augenblick weit öffnete.
Waldur konnte nicht wissen, dass er damit eine weitere Prüfung bestanden hatte, die Umwandlung seines bisher zu hitzigen Temperaments in reine Schaffensfreude.
Z wei Wochen nach diesem Ereignis führte Ethne Waldur in die letzte und, wie sie ihm sagte, schwierigste Schweigestufe ein, die Veredelung des Verstandes.
„Dir ist bekannt, Waldur“ begann sie, „dass sich die Verstandeskraft aus Intellekt und Gemüt zusammensetzt. Mal überwiegt beim Denken das Gemüt, vorwiegend beim Wunsch- oder Phantasiedenken, und ein andermal der Intellekt, nämlich bei scharfem Nachdenken. Natürlich hat auch der Wille seinen Anteil daran, denn ohne ihn geriet ja unser Verstand nicht in Bewegung. Beabsichtigt man also, seinen Verstand zu läutern, so muss man gleichermaßen den Willen, das Gemüt und den Intellekt vergeistigen.
Nun, der Mensch ist ein Spiegelbild der Schöpfung, die in vielen Religionen als Lebensbaum dargestellt wird, wir Heiden nennen diesen Baum Yggdrasil, Ich - Träger. Auf seinem Wipfel, noch über dem Götterreich, thront Licht strahlend der Sonnenaar
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