Die Hexe aus Burgund: Historischer Roman (German Edition)
er empfing auch tags drauf keine Erklärung, nachdem Hermod ihm neue Hölzer übergeben hatte und Waldur fragend vor ihm stehen blieb, Hermod äußerte sich nicht. Deshalb versuchte es Waldur einige Tage später bei Ethne, indem er ihr seine neu begonnene Schnitzerei vorlegte. Sie sah ihn nur stumm lächelnd an.
Darauf begriff er - er war diesbezüglich auf sich alleine gestellt.
F rüh am Morgen des nächsten Neumondtags ließ Ethne Waldur ausrichten, sie nach der Meditation im priesterlichen Gebetszimmer aufzusuchen. Weshalb?, erschrak er, habe ich mich verkehrt verhalten?
Nach der Meditation begab er sich zaudernd hinüber ins Tempelgebäude und dort schließlich zu dem Gebetsraum, in den er Ethne bereits von Weitem hatte hineingehen sehen.
Doch während er ihn dann betrat, kam sie ihm mit freundlichen Worten entgegen: „Gratuliere, kleiner Bruder! Du hast die erste Bewährung, den rechten Umgang mit der Willenskraft, erstaunlich schnell bestanden.“
Erleichtert ließ er sich, ihrer Bitte zufolge, in Meditationshaltung auf ein Gebetskissen nieder.
„Wenn du weiter so geschwind vorankämst“, fuhr sie fort, während sie auf dem Kissen ihm gegenüber ihren Platz einnahm, „dann fiel deine Schweigezeit noch kürzer aus als die deines Vaters. Aber keinen Übermut jetzt, Waldur, dir steht noch Etliches bevor. In der folgenden Phase musst du dein Gemüt unter Kontrolle bringen, um es letztlich zusammen mit deinem Willen zu vergeistigen. Keine leichte Aufgabe, sondern harte Arbeit an dir selbst, denn dabei werden vermehrt deine unguten Eigenschaften durchbrechen, wozu in erster Linie dein Eigensinn, dein Eigenstolz und dein noch immer zum Überschaum neigendes Temperament zählen. Dazu ein Hinweis - an den Vollmondtagen kostet das besondere Beherrschung. Und damit du weißt, wie ernst du das zu nehmen hast, gebe ich dir jetzt preis, dass Wiltrud bereits am ersten Vollmondtag, der noch am leichtesten durchzustehen ist, ihr Schweigegebot nicht mehr hat einhalten können.
Begehe dabei aber nicht den Fehler, ungute Gefühle willentlich zu unterdrücken, erhebe sie vielmehr, indem du sie umwandelst in hilfreiche, selbstlose, liebevolle. Zur Unterstützung dieser anspruchsvollen Schweigeübung und gleichzeitig als Vorstufe zur selbstlosen Liebe, empfehle ich dir, Gleichmut anzustreben. Doch verwechsle ihn nicht Gleichgültigkeit, denke dabei lieber an ‚heitere Gelassenheit’.“
Ethne legte eine Pause ein, in der sich Waldurs Aufmerksamkeit, wie von ihr beabsichtigt, noch erhöhte.
„Dann, Waldur, übe dich in All-Liebe“, fuhr sie fort. „Versuche alle Wesen der Welt bedingungslos und aus vollem Herzen zu lieben. Das lässt deine höhere Seele erwachen, sie wird sich, gleich einer Lotosblüte, Blatt für Blatt sachte öffnen. Begreife jedoch den Unterschied zwischen der menschlichen und der göttlichen, der All-Liebe. Die menschliche Liebe entspringt unserem Gemüt, dem persönlichen Ich, demgemäß braucht sie Sinnesanregungen, um sich entfalten und Bedingungen, um sich erhalten zu können. Sie stellt also Forderungen, und somit ist sie egoistisch. Sie kann sogar Leid entfachen, wie Liebeskummer oder Eifersucht, sofern sie überwiegend aus Leidenschaft besteht. Schlagen jedoch zwei Menschenherzen im Gleichklang tiefer, begierdefreier Liebe, so erleben diese Menschen ein Glück, das nur ein Poet in Worte zu kleiden vermag. Diese Liebenden fühlen sich im siebten Himmel. Im gewissen Sinne sind sie das auch, denn ihre Liebe entströmt der obersten, der siebten Nifelregion, die bereits eine Ahnung der All-Liebe verleiht.
Dennoch, selbst zwischen dieser hohen menschlichen und der göttlichen Liebe liegt noch ein himmelweiter Unterschied. Die menschliche Liebe, aus welcher Gemütsregion auch immer, ist ein personen- oder sachbezogenes, veränderliches Gefühl. Die göttliche hingegen ist ein absoluter Zustand, der Urgrund allen Seins, das wahre Ich eines jeden Wesens. Um dir davon eine annähernde Vorstellung zu vermitteln, möchte ich die All-Liebe mit der Sonne vergleichen, obschon dieser Vergleich unzulänglich ist. Die Sonne kann nicht anders als strahlen, weil sie die Sonne i s t . Sie strahlt unentwegt, auf alles und jeden, nie mehr und nie weniger, und ohne an eine Gegenleistung zu denken. Ebenso ein Mensch im fortwährenden Zustand der All-Liebe. Er verströmt sich selbst, das wahre Selbst, zum Segen aller Wesen, denn er i s t die All-Liebe.
Diesem Zustand kann man sich nur nähern, indem man sein niederes
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