Die Hexe und der Herzog
anzulasten. Somit kann auch der Vorwurf des Hexenwerks in diesem Zusammenhang nicht aufrechterhalten werden. Die Scheuberin ist unschuldig und daher umgehend in Freiheit zu entlassen!«
»Ich ersuche das Gericht um eine Vertagung«, rief Bischof Golser. »Mein Gliederreißen, das unerträglich lange Sitzen – morgen werden wir alle wieder frischer zusammenkommen...« Er hielt inne, drehte seinen Kopf zum Fenster, lauschte. »Was soll dieser ungebührliche Lärm da draußen?«, rief er. »Das klingt ja beinahe, als sei eine ganze Hundertschaft auf den Gassen unterwegs.«
Bitte, lass es ganz genauso sein, gütiger Gott im Himmel!, betete Johannes Merwais inbrünstig.
Sie kommen. Endlich kommen sie!
Es waren sehr viel mehr als hundert, die sich vor dem Rathaus versammelt hatten. Es sah aus, als sei auf einmal die halbe Stadt auf den Beinen, so dicht drängten sich die Menschen – Männer, Frauen, Alte und Junge. Sogar ein paar vorlaute Kinder waren darunter, die alles für einen köstlichen Spaß zu halten schienen und zwischen den Erwachsenen lautstark Fangermandl spielten.
»Gebt die Frauen frei!«, skandierten die Menge. »Innsbruck hat keine Hexen. Barbara, Rosin, Wilbeth – wenn sie euch nicht gehen lassen, stürmen wir den Turm! Lena und Hella, Els und Bibiana, wir kommen, wir kommen!«
»Was soll dieser Aufruhr?« Der Bischof wagte kaum, die Nasenspitze vors Fenster hinauszustrecken. »Ich erkenne meine braven Tiroler ja gar nicht wieder.«
»Die Leute verlangen Gerechtigkeit«, sagte Johannes Merwais. »Sie sind es leid, mit scharfen Predigten gegen ihre Freunde und Nachbarn aufgehetzt zu werden.«
»Und was ist mit diesen Zeugenaussagen?« Auf Kramers hohlen Wangen brannten rote Flecken. Er schlug mit der Hand auf seine Dokumente. »Jeder Einzelne, der hier aufgeführt ist, war bei mir und hat seine Aussage gemacht. Das sind doch alles keine Hirngespinste!«
»Die Frauen!«, schrien die Menschen draußen. »Gebt die Frauen frei – sonst kommen wir sie holen!«
Zwei der Büttel kamen angstvoll in den Saal gerannt. »Manche haben sogar scharfe Sensen und Mistgabeln dabei«, rief der eine. »Ich hab es ganz genau gesehen.«
»Und ich, dass sie sich bereits nach einem geeigneten Rammbock umschauen. Sie wollen das Rathaus stürmen – und anschließend das Loch. Das ist offener Aufruhr!«
»Keiner von uns wird wanken oder weichen«, presste Kramer hervor, doch es klang alles andere als entschlossen.
»Zum Glück hat Seine Hoheit bereits das Ratshaus verlassen«, sagte der Generalvikar Christian Turner. »Nicht auszudenken, was passieren könnte, bekäme der Pöbel ihn in die Finger!«
»Das ist kein Pöbel«, wies Merwais ihn scharf zurecht. »Das sind lauter anständige Leute, die ihre Nichten, Tanten und Großmütter, ihre Hebammen, Wirtinnen und Totenfrauen zurückhaben wollen. Sie stehen ein für jene, die ihnen seit Jahren in Freud und Leid geholfen und beigestanden haben. Und was mich persönlich betrifft, auch wenn ich nicht aus dieser Stadt stamme: Ich kann sie und ihre Beweggründe sehr gut verstehen.«
Ein schwerer Gegenstand wurde gegen die Tür gerammt. Alle im Saal schraken zusammen.
»Sie kommen!«, rief Kramer entsetzt. »Mit Gewalt werden sie gegen uns vorgehen. Was sollen wir nur tun?«
»Es gibt da einen schmalen Geheimgang zum Nebenhaus«, sagte Notar Kanter, die erste und einzige Bemerkung, die er an diesem Tag von sich gegeben hatte. »Aus alten Zeiten. Ich kenne ihn. Kommt, folgt mir!«
Blitzschnell hatte sich hinter ihm eine Reihe von Männern gebildet, die alle eifrig dem schützenden Ausgang entgegenstrebten. Die Angeklagte Hella Scheuber schienen sie dabei um ein Haar vergessen zu haben. Erst im letzten Moment ergriffen zwei Wächter Hella, banden sie und zogen sie mit sich.
»Was wird nun aus mir?«, sagte sie leise zu Johannes, der im Getümmel hinter sie getreten war.
»Du kommst natürlich frei«, sagte er leise. »Wenngleich auch nicht sofort. Für ein paar Nächte musst du noch einmal zurück ins Loch, aber das lässt sich doch aushalten, wenn danach die Freiheit winkt, oder?«
Hella nickte rasch. »Danke, dass du …«
»Es ist noch nicht vorbei«, fiel er ihr ins Wort. »Das Schlimmste steht uns morgen bevor – und der Allmächtige möge uns helfen! Sag meiner Lena, wie sehr ich sie liebe. Hätte sie sich an das blaue Fläschchen nicht erinnert, alles sähe sehr viel düsterer aus. Und morgen kommt es auf ihr Vertrauen in mich besonders an. Wirst du
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