Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
der Familie vor, der trotzig weiterspielen wollte. Innerhalb von wenigen
Minuten waren alle drei Kinder vom Schnee befreit und nahmen, wenn auch etwas durchnässt,
neben ihren Brüdern und ihren Eltern auf der Holzbank Platz.
Schon lange tobte der Krieg im Land. Könige, Feldherren und Fürsten
entsandten ihre Armeen und machten Gebiete zu einem Tummelplatz des Kampfes. Doch
noch nie war der Krieg so nah an dieser kleinen, gebeutelten Stadt am Niederrhein
gewesen. Vor vielen Jahren hatte die Pest die Hälfte der Einwohner hingerafft. Einige
Ältere erzählten bis zu diesem Tag vom ›schwarzen Tod‹. Angst und Gefahr lagen damals
wie ein dunkler Schleier über der Stadt. Jedes Wort, jede Tat, jeder Gedanke drehte
sich um die tödliche Krankheit. Und obschon die meisten Wissenden bereits gestorben
waren, wurde auch heute die Stadt überschattet. Jedoch aus einem anderen Grund.
Das leise Gemurmel auf den Bänken erstarb, als die Glocke geläutet
wurde und Pfarrer Tillmann an den Altar trat. Der Geistliche begann mit der Messe,
doch auch wenn Lorenz sich noch so sehr zu konzentrieren versuchte, seine Gedanken
und Hoffnungen schweiften ein ums andere Mal ab. Zu sehr hasste er die Eindringlinge,
die ihn, seine Familie, ja die gesamte Stadt in diese nicht greifbare, doch allzu
reale Angst versetzten. Verbissen kaute er auf seiner Unterlippe, bis er von seinem
Bruder Maximilian einen leichten Schlag auf den Hinterkopf verpasst bekam.
»Möchtest du der Messe nicht beiwohnen?«, fragte er herausfordernd.
»Natürlich.«
Lorenz strich seine dunklen, kurzen Haare glatt und versuchte, der
Heiligen Messe zu folgen. Ein kurzer Seitenblick auf seinen Bruder ließ ihn lächeln.
Obwohl Maximilian nur zwei Jahre älter als er war, benahm er sich wie ein zweiter
Vater. Seine ebenfalls schwarzen Haare hatte er lang wachsen lassen, nur unterhalb
der Ohren sorgfältig gestutzt. Sie fielen jedes Mal vor seine Augen, wenn er sich
zum Gebet runterbeugte. Belustigt stierte Lorenz nach vorn, um sich nun den Worten
des Pfarrers zu widmen. Dieser hatte das heilige Buch zugeschlagen und wandte sich
direkt an seine Gemeinde.
»Liebe Freunde«, begann er lächelnd.
Seine weißen Zähne strahlten in den einfallenden Sonnenstrahlen. Die
Priesterkutte wirkte bei Tillmann fehl am Platze. Hätte er nicht das Zölibat gewählt,
die Frauenwelt hätte ihm zu Füßen gelegen.
»Angst macht sich breit in unserer Gemeinde.«
Seine Stimme war laut und erfüllte noch die letzte Bank der Kirche.
»Und genau das ist richtig!«
Drohend wandelten sich seine feinen, ja fast weiblichen Gesichtszüge
in die eines Lehrers, der seine Schüler strafen wollte.
»Frevel und Habgier erfüllen das Land allerorts. Das Gute scheint überall
abzunehmen und das Böse an Einfluss zu gewinnen. Der andauernde Krieg ist die gerechte
Strafe dafür. Denn nur wer reinen Herzens ist, muss keine Angst haben.«
Die Menge starrte den schlaksigen Prediger gebannt an. Die immer dicker
anschwellende Ader an seiner Schläfe verriet, dass er nun noch lauter und eindringlicher
auf die Menschen einreden würde.
»Drum sage ich euch, liebe Leute: Keuschheit, Nächstenliebe und Bescheidenheit
sind die höchsten Tugenden, um der katholischen Kirche zu dienen, und nur dann wird
der Allmächtige in seiner unendlichen Güte diese Stadt verschonen und die Eindringlinge
in die Flucht schlagen.«
Trotz der eisigen Temperaturen begann Pfarrer Tillmann zu schwitzen
und fuhr sich durch die blonden Haare.
»Gott hatte versprochen, Sodom und Gomorra zu
verschonen, wenn sich nur zehn Gerechte unter den Bürgern der Stadt befinden. Und
was ist, wenn dem Herrn zehn Gerechte für Kempen zu wenig sind? Wie viele mögt ihr
wohl sein? Zwanzig? Dreißig? Und wenn das auch zu wenig ist?«
Strafend fuhr sein Blick über die Anwesenden, als schaue er jeden Einzelnen
von ihnen an. Seine Augen funkelten. Lorenz’ kleine Schwestern drückten sich ängstlich
an die Mutter und versuchten, sich unter ihrem weiten Umhang zu verstecken.
»Wie viele von euch lassen sich allzu leicht von körperlichen Lüsten
ablenken, obwohl ihr geistige Nahrung beim Herrn finden solltet? Wie viele von euch
saufen und prügeln, obwohl sie Kraft und Ruhe im stillen Gebet suchen sollten? Wie
viele von euch sind eben nicht gerecht?« Die Ader an seiner Schläfe pulsierte nun.
Ein weiteres Mal ließ der Pfarrer seine Worte im Raume verhallen und blickte die
Menge herausfordernd an.
»Ich möchte euch die Antwort geben, meine
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