Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
Sprich nichts aus und handele nicht, wenn
du es bereuen könntest.«
Er klopfte seinem jüngeren Bruder ein wenig zu hart auf die Schulter.
Damit war das Gespräch beendet und sie verließen die Gasse auf eine belebtere Straße.
Der Schnee hatte den Boden unter den Pflastersteinen aufgeweicht und aus ihm eine
schlammige, braune Masse geformt, sodass einige Karren stecken blieben. So versuchten
die Männer mit Muskelkraft ihre Gefährte zu schieben, während einige ihre Pferde
antrieben. Die Tiere gaben bei jedem Peitschenknall ein schmerzerfülltes Wiehern
von sich, das man noch auf dem Marktplatz hören musste. Die Geräuschkulisse hatte
so zugenommen, wie sie sonst nur an ganz normalen Wochentagen üblich war. Nur die
geschlossenen Geschäfte ließen vermuten, dass Sonntag war. Auch hier glänzte der
Schnee auf den Dächern der Häuser, und nur wo die weiße Pracht nicht die Schilder
verdeckte, konnte man erkennen, um was für ein Gewerbe es sich handelte.
Die bereits geschlagenen Holzscheite lagen weiter nördlich am Waldrand.
Allerdings hatten die beiden es nicht eilig, nach Hause zu kommen, so ließen sie
sich Zeit mit der Besorgung. Lorenz indes konnte das Gespräch immer noch nicht abschließen.
Nachdenklich wandte er sich erneut an seinen Bruder.
»Wenn Gott den Krieg als Strafe für die Menschen vorsieht, dann wird
er uns Mittel und Wege aufzeigen, genau diesen zu beenden.«
Maximilian musste darauf herzlich lachen und guckte demonstrativ gen
Himmel.
»Er wird den Krieg so lange toben lassen, wie es ihm beliebt. Oder
glaubst du wirklich, kleiner Bruder, dass du so wichtig bist und er ausgerechnet
dir den Weg zeigt?«
Er wollte etwas entgegnen, doch in diesem Moment
vernahmen beide ein schmerzverzerrtes Wiehern. Keine 50 Ellen vor ihnen war es Knechten
gelungen, den Karren aus einem Loch zu befreien. Allerdings hatte der Besitzer seine
zwei Tiere so sehr malträtiert, dass sich diese vom Geschirr losrissen und panisch
über die offene Straße stürmten. Kisten wurden umgerissen, Leute schrien und sprangen
mit einem Satz in anliegende Gassen, als die beiden Pferde sich ihren Weg bahnten
und alles niedertrampelten, was ihnen unter die Hufe kam. Spitze Schreie erfüllten
die Gasse, und innerhalb von wenigen Augenblicken brach Chaos aus. Eine Frau verlor
auf der Flucht das Gleichgewicht und stürzte auf das eisige Kopfsteinpflaster. Ihr
gellender Wehruf ließ die Menschen sich umblicken. Erschrocken versuchten ihre Angehörigen
sie hochzuziehen, doch die Pferde trampelten einfach über sie hinweg. Lorenz dachte,
er könne die Knochen der Frau brechen hören. Ungehindert schossen die Tiere weiter,
mitten auf ein Mädchen zu, das ebenfalls auf dem matschigen Untergrund ausgerutscht
war. In den riesigen Augen der Tiere flammten Panik und Angst auf. Eine gefährliche
Mischung. Geistesgegenwärtig riss Lorenz sich los und stürzte dem am Boden liegenden
Mädchen entgegen. Den Schrei seines Bruders hörte er nicht mehr. Mit einer geschickten
Bewegung schulterte Lorenz das Mädchen und warf sich in einem Sprung in die schmale
Gasse. Das dumpfe Poltern der Hufe schlug nur wenige Ellen neben ihm auf.
»Bist du von Sinnen?«, brüllte ihn Maximilian von oben an. Nur um im
nächsten Moment zu prüfen, ob er unversehrt geblieben war. Hektisch befühlte er
das Gesicht seines jüngeren Bruders. Doch dieser grinste nur breit, als ob ihm dieser
Übermut noch Freude bereitet hätte.
»Wieso? Laut Pfarrer Tillmann sollen wir doch unsere Tugenden leben.«
Jetzt musste auch Maximilian auflachen.
»Mut ist eine Tugend, Dummheit allerdings nicht.«
Zusammen zogen sie dem Mädchen die Kapuze vom Gesicht. Immer noch unter
Schock, blickte sie die junge Frau mit großen Augen an. Ihr Atem war beschleunigt
und ihre Hände zitterten. Nur mit Mühe richtete sie sich auf und strich ihre blonden
Haare zurück. Sie war gekleidet in einen prächtigen Rock aus purpurrotem Samt und
eine Bluse aus weißem Leinen mit Puffärmeln. Passend zu den goldenen Ohrringen trug
sie eine weite Kette, die ihr bis zur Taille reichte. Lediglich ihr Mantel war von
Dreck und Schlamm überzogen.
»Ihr, ihr …« Sie fasste an sich hinunter, um sicherzugehen, dass sie
den Vorfall ohne Blessuren überstanden hatte. »Ihr habt mich gerettet.«
»Ihr hättet es auch ohne unser Zutun geschafft.«
»Nein, nein, das hätte ich nicht«, stammelte das Mädchen. Sie schaute
sich um, erblickte die Frau, die vor wenigen Sekunden Opfer dieses Unfalls geworden
war.
Weitere Kostenlose Bücher