Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
humpelten nun auch Maximilian
und Jakob zu der Mauer, an der sich die drei abstützten. Schwer atmend versetzte
Ratte einem am Boden Liegenden noch einen Schlag ins Gesicht, bevor das Tier sich
erneut sammelte. Doch anstatt abermals in ein Handgemenge zu verfallen, wartete
es. Mehrere Dutzend Personen zählte die Schar derer, die ihnen entgegenblitzten.
Blutend, keuchend, voller Hass.
»Wer seid ihr«, erklang es ruhig aus dem hinteren Teil der Menschenansammlung,
»dass ihr Gottes Wille verhindert?«
Tillmann bewegte sich mit gekreuzten Armen in die erste Reihe. Abschätzend
blickte er die fünf an, als er mit einer Handbewegung die Leute zurückhielt.
In diesem Moment spürte Lorenz die Schwärze, die sich langsam, aber
unaufhörlich in seinem Kopf ausbreitete.
»Es ist nicht Gottes Wille, dass ihr eine Unschuldige umbringt«, röchelte
er.
»Sie ist beileibe nicht unschuldig!«, spuckte der Pfarrer. »Sie hat
unseren geliebten Bürgermeister hinterrücks ermordet und mit ihrer schwarzen Magie
Tod und Elend über Kempen gebracht.«
Lorenz spürte, wie sein Nacken den Kopf nicht mehr halten wollte.
»Ihr steckt dahinter!«, fuhr es aus ihm heraus.
Die Ader des Geistlichen pulsierte. »GENUG! Ergreift diese Blasphemisten!«,
spie er.
Augenblicklich schossen einige Männer auf sie zu. Es waren zu viele,
um sie aufzuhalten. Jakob und Ratte stürzten sich todesverachtend in das Tier hinein.
Noch zögerten einige, denen Jakobs Statur imponierte. Lorenz sah keine andere Wahl
mehr. Mit beiden Händen nahm er das Gesicht Antonellas in seine Hände.
»Früher oder später werden sie uns überwältigen«, flüsterte er leise.
Die Blicke der beiden trafen sich. »Flüchte, wir werden sie lange genug aufhalten,
bis du sicher bist.«
Schmerzlich sah sie ihn an. »Lorenz, bitte, ich habe so lange auf dich
gewartet.«
Mit leichtem Druck schob er sie in die dunkle Gasse. »Bitte, beeile
dich.«
Aus ihren Augen sprach eine Trauer, die ihm das Herz zerriss.
»Bitte, geh …«, flehte er.
Erst schaute Antonella zu Boden, dann stellte sie sich hastig auf ihre
Zehenspitzen und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Ihr Mund, ihr Gesicht, ja
ihr ganzer Leib schien zu brennen. Dann glitten ihre Hände auseinander und sie drehte
sich um. Einen Moment lang beobachtete er noch ihre wehenden Haare, die langsam
mit der Dunkelheit eins wurden. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, senkte
er den Kopf und wandte sich der Masse zu. Die drei hatten mehrere Leute niedergeprügelt,
und doch versammelten sich immer mehr um die Freunde. Sie lauerten auf eine Schwachstelle,
auf einen Schlag, den sie ihnen versetzen konnten, ihrer Überlegenheit sich wohl
bewusst. Nachdem Maximilian einen Angreifer mit einem Tritt niedergestreckt hatte,
schnellte er zu seinem Bruder.
»Lorenz, was ist los?«
Er jetzt bemerkte er, dass Blut aus seinen Ohren
und seiner Nase lief und sein Hemd rot färbte. Langsam verlor Lorenz das Gleichgewicht
und stürzte auf die Knie. Es war, als wäre die unmenschliche Kraft der Verzweiflung
nun, da Antonella in Sicherheit war, aus seinem Körper gewichen. Noch einmal sah
er in das Gesicht des Mannes, dem er den Tod wünschte. Tillmann grinste ihn hasserfüllt
an. Dann schlug Lorenz hart auf dem Kopfsteinpflaster auf. Sofort stürzten sich
die Leute auf ihn, doch gerade, als sie zu Schlägen und Tritten ausholten, stoppte
sie eine schneidende Stimme.
»Genug!«, schrie Tillmann. »Lasst von ihnen ab.«
Einige Sekunden vergingen wortlos. Erst erschrocken, dann verwundert,
humpelten die Menschen hinter den Pfarrer. Ratte und Jakob eilten augenblicklich
zu den Brüdern. Ruhig hielt Maximilian Lorenz’ Kopf.
»Sie werden ihre Strafe noch früh genug erhalten«, zischte der Geistliche.
»Es ist nur wichtig, dass der Sukkubus nun für seine Sünden bestraft wird.«
Einige Bewohner rumorten. »Wo ist sie hin? Wie sollen wir sie finden?«
Maximilian wischte Lorenz das Blut vom Gesicht.
»Anto… Antonella …«, wisperte Lorenz.
Kurz blickte Maximilian in die Gasse. »Sie ist in Sicherheit.«
»Danke«, gurgelte er erleichtert.
Nachdem er dieses Wort ausgesprochen hatte, spürte er die riesigen
Pranken Jakobs unter seinem Körper. Schwer atmend schloss Lorenz die Augen und ließ
sich von der Schwärze einhüllen, gegen die er stundenlang gekämpft hatte. Das Gemurmel
und die Flüche der Bewohner nahm er bereits nicht mehr wahr. Es klang alles wie
ein tiefes Grollen. Doch eine Stimme vernahm er ganz genau,
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