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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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nicht.
    Auf dem Heimweg spähte ich aus dem Kutschenfenster in die Gassen, die wir passierten, als könnte ich etwas entdecken. Doch das war eine törichte Idee. Die Nacht hat dich närrisch gemacht, Geneviève, schalt ich mich. Morgen früh werde ich einen Plan erstellen und mit der Durchsuchung der Spitäler beginnen.
    Aber am nächsten Morgen, noch ehe ich angekleidet war, führte Sylvie Marie-Angéliques kleine Zofe herein. Sie trug einen großen Vogelkäfig, ihre Augen waren geschwollen.
    »Du weißt, wo sie ist«, rief ich, stellte meinen Becher mit Schokolade beiseite und warf die Decke zurück. »Geschwind, Sylvie, meine Kleider. Wir gehen zu ihr, wir holen sie zurück!« Sylvie eilte an den Schrank, um mein Kleid und meine Unterkleider zu holen.
    »Sie sagte, ich soll den Vogel zu Euch bringen, wenn sie bis gestern abend nicht zurück ist, und sie ist nicht wiedergekommen.«
    »Aber wo ist sie jetzt?« fragte ich. Sylvie zögerte an der Schranktüre.
    »Das weiß ich nicht. Niemand weiß es. Sie kommen entweder zurück oder nicht – das ist alles.« Die kleine Zofe rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen.
    »Was meinst du mit ›sie‹?« fragte ich bedächtig, als mein Verstand das Entsetzliche endlich begriff.
    »Sie ist nicht die erste, müßt Ihr wissen. Aber ich hatte sie gerne, o ja. Mademoiselle Pasquier war nicht für dieses Leben geschaffen, das habe ich gemerkt. Sie war anders, gütiger. Aber was konnte ich machen? Sie ist zu ihm gegangen, am ganzen Leibe zitternd, und sagte, sie wollte eine Frau aufsuchen, die es machen würde. Aber er saß nur hinter seinem großen Schreibpult, ohne von seinen Papieren aufzusehen, und sagte ganz glatt und kühl: ›Ich hoffe, Ihr meint nicht La Voisin. Ich habe nicht die Absicht, mich von Euch erpressen zu lassen.‹ ›Im Namen der Liebe‹, sagte sie, ›etwas Derartiges würde mir niemals in den Sinn kommen. Nie würde ich mich zu einer solchen Ehrlosigkeit erniedrigen.‹ ›Nach meiner Erfahrung gibt es keine Ehrlosigkeit, zu der eine Frau sich nicht erniedrigen kann. Ihr könnt kaum behaupten, daß Ihr Euch nicht mehr als einmal erniedrigt habt.‹ Sie wurde ganz steif und verschränkte die Hände. ›Aber, aber‹, sagte er auf seine sanfte, schmeichelnde Art, ›wenn Eure Liebe ehrlich wäre, würdet Ihr meine Entscheidung in dieser Angelegenheit nicht in Frage stellen.‹ Sie senkte den Kopf und ging, wie ein Lamm zum Schlachter. ›Gott wünscht, daß ich für meine Sünden sterbe‹, sagte sie, als ich sie zu ihrer Kutsche brachte. ›Bringe den Vogel zu meiner Schwester. Er wird länger leben als wir beide.‹ Sie hat es gewußt, Madame. Gott weiß wie, aber sie hat es gewußt.«
    »Ich werde sie in den Spitälern und im Keller des Châtelet suchen. Willst du mit mir kommen?« fragte ich.
    »Ich wage es nicht, Madame. Ich kann nicht lange ausbleiben. Wenn er denkt, etwas könnte ihn mit – nun, Ihr wißt schon – in Verbindung bringen, wird er grausam. Dann könnte auch ich verschwinden, und er würde einfach allen erzählen, ich wäre heimgegangen, zu meinen Verwandten aufs Land.« Der Kopf unter den Dielenbrettern fiel mir ein. Ich hatte zuviel verlangt von einem Mädchen, das bereits eine Gefahr auf sich genommen hatte.
    »Verzeih«, sagte ich leise. Erschrocken über die unerwartete Entschuldigung, stellte sie den Vogelkäfig ab und floh.
    »Sylvie«, fragte ich, als ich die Hintertüre zuschlagen hörte, »kannst du mich begleiten?«
    »Madame, Eure Logik hat Euch im Stich gelassen. Wenn Ihr gesehen werdet, wie Ihr Erkundigungen einholt, wird das die Abtreibung mit uns und La Voisin in Verbindung bringen. Ich habe eine Zauberformel gelernt, welche verhindert, daß ich unter der Folter rede – aber Ihr, wie könntet Ihr die Wasserfolter oder den spanischen Stiefel ertragen? Nein, durch Eure Torheit wegen einer verlorenen Freundin werden wir allesamt zugrunde gehen. Gebt sie auf. Ich will nicht wegen einer Abtreibung hingerichtet werden, die ein Fremder verpfuscht hat.« Sylvies Gesichtsausdruck war hart und durchtrieben, das Gesicht einer Bäuerin, die überlegt, ob es lohnt, einer zu alten Legehenne den Hals umzudrehen.
    »Sylvie, sie ist meine Schwester.«
    »Eure Schwester? Wie das? Sie ist nicht älter als zwanzig, würde ich meinen. Eure Mutter konnte unmöglich das ganze alchimistische Zeug genommen haben – oder sagt Ihr das nur so daher?« Noch auf der Bettkante sitzend, sackte ich vornüber und stützte den Kopf auf die

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