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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Hände.
    »Sie ist meine leibliche Schwester, Sylvie. Meine ältere Schwester. Erzähle Madame nicht, daß ich es dir gesagt habe. Sie würde mir nie verzeihen. Hilf mir, bitte. Sie war mehr für mich als irgendeine Mutter auf Erden.« Ich hörte Sylvie unwillig mit dem Fuß aufstampfen.
    »Meine Güte, kleine Madame, Ihr habt mich wahrhaftig genarrt. Einhundertfünfzig Jahre alt! Ich dachte mir, daß Ihr lügt. Vielleicht sechzig oder siebzig mit der scharfen Zunge und dem Gehabe einer alten Dame. Es muß etwas auf sich haben mit dem Faltenmittel, dachte ich. Eines Tages werde ich es selbst wollen, es wirkt vorzüglich. Jetzt fehlt nur noch, daß Ihr mir erzählt, Ihr sagt nicht wirklich aus dem Glase wahr.«
    »Wahrsagen tue ich wohl«, sagte ich mit matter Stimme, »ich bin nur nicht sehr alt. Nur mein Herz ist alt – vor der Zeit.« Ich spürte, daß sie mein Gesicht betrachtete, und als ich aufsah, stand sie dicht vor mir.
    »Madame – erlaubt mir, einen Vorschlag zu machen. Laßt die Marquise de Morville heute zu Hause. Ganz Paris kennt sie. Wir kürzen den Saum meines Sonntagskleides, und Ihr könnt als Zofe gehen. Nicht als ihre. Sie werden alle Bedienten der Marquise für Mitverschwörer halten und ausfragen. Ihr seid geschickt genug, eine alte Dame zu spielen. Denkt Euch eine Verkleidung aus, eine plausible Geschichte.«
    Und so kam es, daß selbigen Tages eine ramponierte Droschke eine verwachsene Dienstmagd des Hauses Matignon vor dem Châtelet absetzte. Sie wurde von der Polizei in den dumpfigen Keller geführt, wo alle Leichen, die in Paris aufgefunden werden, vor der Bestattung drei Tage liegen. Der Gestank hätte mich beinahe vertrieben, doch ich dachte an die Hingabe, welche Marie-Angélique auf der Suche nach mir wieder und wieder an diesen Ort geführt hatte, und näherte mich den Leichensockeln. Über ihnen hingen an Haken die Kleider der Opfer, um bei der Identifizierung der aufgeblähten, verwesenden Leichname zu helfen.
    »War die Dienstmagd gut gekleidet, als sie verschwand?«
    »Ja, mit den Kleidern meiner Gebieterin, diese Dirne. Aber meine Gebieterin ist eine christliche Frau und vergibt ihr. Sie wird ihr eine Tracht Prügel verabreichen, daß es ihr eine Lehre sei, aber sie will sie wieder aufnehmen.«
    »Das ist mehr, als sie verdient, meine ich. Waren ihre Haare gelb?«
    »Ja, gelb – aber nicht wie die da – die sind gefärbt.«
    »Dann ist sie nicht hier – sie wird die Stadt längst mit einem Liebsten verlassen haben. Ich fürchte, deine Gebieterin wird sich eine neue Zofe suchen müssen.«
    »Es ist nur, damit sie mir keine Vorhaltungen macht, Ihr versteht schon.« Beim Gehen grinste ich den Mann höhnisch an, und er bekreuzigte sich. Gut, dachte ich. Patzig und unansehnlich, genau, was Männer an einer Frau hassen. Es ist beinahe so gut, als wäre ich unsichtbar.
    Als die Droschke im Parvis de Notre-Dame vor dem Hauptportal des Hôtel-Dieu anhielt, schmerzte mein Rücken ohne das stützende Stahlkorsett bei jedem schwankenden Schritt, den ich tat. Es ist vermutlich ein Fortschritt, dachte ich, daß ich nicht ohne Qualen in meinen alten humpelnden Gang zurückverfallen kann. Ein Bettler auf der Straße machte ein Zeichen, um das Auge des Bösen abzuwenden. Das war in den alten Tagen nie geschehen. Dann fiel mir ein, was es war. Ich hatte die Haltung, das Gewand und den Spazierstock der Marquise zurückgelassen, aber ihren gebieterischen, scharfsinnigen Blick beibehalten. Ich muß wie eine Hexe aussehen, dachte ich, indes ich geschwind die Augen senkte und den demutsvollen Blick der geringsten der Hausbedienten annahm.
    Ich hatte nicht damit gerechnet, so bald zu finden, wonach ich suchte. Die Novizin an der Türe der Frauenstation wies in den langgestreckten steinernen Saal, in dem mit Vorhängen versehene Betten standen. »Sie ist dahinten«, sagte sie unwirsch, »auf der rechten Seite von Bett Numero vier. Aber warum ihre Familie sie haben will, ist mir unbegreiflich; es wäre besser, sie verschwinden zu lassen. Es ist ein Glück für sie, daß sie stirbt – das Beste, um der Strafe für Kindestötung zu entgehen. Aber Gottes Strafe wird sie nicht entgehen.« Ich nickte wie zustimmend, indes ich dachte, lieber hätte ich es jeden Tag mit Hexen zu tun.
    Marie-Angélique lag mit vier anderen Frauen dicht gedrängt in einer Bettstatt. Eine Frau schien bereits tot zu sein, eine andere phantasierte in jenem Fieber, das auf eine Fehlgeburt folgt. Ein Mann in dem blauen Habit und

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