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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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sagte der Träger, der hinten ging. »Die armen Frauen des Viertels fallen über alle Fremden her, prügeln sie halb tot und kreischen: ›Hexe, Hexe, geh zurück zu Satan!‹«
    »Es geht schlimm zu, das ist sicher«, erklärte der erste Mann. »Sie haben geschworen, jeden auf der Straße, den sie nicht kennen, als Kindsdieb zu töten. Die Polizei ist zu Pferde angerückt, aber sie haben die Gassen verbarrikadiert.«
    »Kindsdiebe?« fragte ich.
    »O ja. Das sind die Zauberer und Hexen«, sagen sie. »Die bezahlen zwei Écus für ein getauftes Kind. Das ist eine Menge Geld, und die Zeiten sind schwer. Darum gibt es Leute, die arme Kinder stehlen, um sie zu verkaufen.«
    Der zweite Träger, ein abstoßender Mann, pockennarbig und zahnlos, flüsterte verschwörerisch: »Die brauchen sie für die schwarze Messe. Schlitzen ihnen die Kehle auf, jawohl.«
    »Aber das ist entsetzlich«, pflichtete ich ihnen bei. »Ich kann den Aufrührern keinen Vorwurf machen. Hört, ich zahle euch das Doppelte, wenn ihr mich bis an die Grenze des Aufruhrs bringt, dann kann ich den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen.«
    Die Träger, die die Tragestangen der Sänfte losgelassen hatten, hoben zu einem lautstarken Streit an, indes ich verlegen dort saß und Passanten zu uns hinstarrten. Schließlich einigten sie sich und setzten mich an der Barrikade ab. Ich sah berittene Bogenschützen zwischen kreischende Frauen preschen, die aus den Gassen strömten. Immer aufs neue trieben die Männer ihre schäumenden Pferde in die Schwärme von Frauen, die sich laut fluchend zurückzogen und ihre Verwundeten mit sich schleppten. Am Ende trabten die Polizisten die Hauptstraße auf und ab, inmitten des Gerümpels, das ein Aufruhr jedesmal hinterläßt: Holz und Trümmer von den errichteten Barrikaden, Steine, Holzschuhe und hie und da eine zerknitterte Schürze oder ein altes Kopftuch, die in dem Tumult verlorengegangen waren. Und der Staub war mit Rot durchsetzt. Darauf wollte ich meinen Fuß nicht setzen.
    »Ich glaube, ihr könnt mich gefahrlos hier zurücklassen«, sagte ich zu den Trägern, als ein Hauptmann heranritt, um meine Sänfte zu geleiten. Ich grüßte ihn mit der Gemessenheit, die einer alten Witwe ansteht.
    »Ich bedauere außerordentlich, Madame. Ihr müßt verstehen, die Armen sind abergläubisch. Das bringt Scherereien mit sich.« La Reynies Polizisten waren stets höflich zu Edelleuten. Anders als in den alten Zeiten, da auf den Straßen Unordnung herrschte und man die Bogenschützen bestechen mußte, um einen Dieb zu fangen, und die, wenn er sie reichlicher bestach, ihn laufenließen.
    La Lepère war in der Welt aufgestiegen, in übertragenem wie in wörtlichem Sinne. Sie bewohnte zwei Zimmer im vierten Stockwerk eines schmalen, schäbigen Hauses, das in der ersten Etage eine Bändermacherei beherbergte. Auf dem kleinen Balkon oben an der Außentreppe sah ich, daß sie ihre Türe bereits geöffnet hielt, nachdem sie meinen mühsamen Aufstieg auf den vielen baufälligen Treppenabsätzen gehört hatte.
    »Antoine Montvoisin schickt mich.«
    »Ich weiß«, erwiderte sie. »Marie-Marguerite ist hier. Das Kind kam diese Nacht heil und gesund zur Welt. Kommt herein.«
    »Ich muß schon sagen«, bemerkte ich keuchend, »dies ist eine mühsame Adresse für eine Hebamme; die Treppe ist für eine Schwangere nicht leicht zu erklimmen und für eine junge Mutter nicht leicht hinabzusteigen.«
    »Oh, meistens schicken sie nach mir, wenn sie es lebend wollen. Die anderen – die finden es nicht so mühsam. Sind sie allerdings sehr fürnehm, bieten wir ihnen in der Rue Beauregard mehr Luxus.«
    Wir traten in das verdunkelte Zimmer, in dem Marie-Marguerite, deren Locken feucht am Kopfe klebten, ihren Säugling an der Brust hielt. »Schaut her«, sagte La Lepère, »sieht sie nicht gut aus? Es ist ein gesunder Knabe. Die Lebendigen geben einem mehr Befriedigung, obzwar ich heutzutage mehr mit den anderen zu schaffen habe. Oh, was für eine Welt! Ich muß es in meinem Leben mit zehntausend zu tun gehabt haben!« Zehntausend? Selbst in ihrem Leben – sie mußte an die achtzig Jahre alt sein – dünkte mich das eine erkleckliche Menge Abtreibungen. Geschwind multiplizierte ich diese Zahl mit der Anzahl von »Gewerbe treibenden« Frauen, von denen ich wußte, daß sie mit La Voisin in Kontakt standen. Kein Wunder, daß der Schornstein in ihrem Gartenpavillon ohne Unterlaß rauchte.
    »Madame de Morville, Madame«, rief Marie-Marguerite durch das

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