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Die Hexe von Paris

Titel: Die Hexe von Paris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Willen.

    Ich hielt inne und betrachtete, was ich geschrieben hatte. Es machte sich hübsch auf dem Papier, alles vernunftgemäß dargestellt wie Euklids Geometrie. Ordnung und Logik bezwingen das Unbekannte. Sinn entsteht aus wirbelndem Wahn.

    Umkehrschluß (IA): Gott mag die Welt erschaffen und dann sich selbst überlassen haben wie ein Uhrwerk.
    (IA i): Wenn Gott nicht in die Welt eingreifen kann, dann ist Gott nicht allmächtig. Aber Gott ist per Definition allmächtig, und daher gibt es, wenn (I) wahr ist, gemäß (IA i a) unserer gegenwärtigen Auffassung und Definition des Begriffes keinen Gott. Wenn Gott existiert, aber beschließt, nicht einzugreifen (IA ii), dann ist (IA i a) tatsächlich ebenfalls wahr.
    Wenn (II) zutrifft, dann erlaubt Gott dem freien Willen, i. e. der Entscheidung des Menschen, die Zukunft umzugestalten. Dies geschieht entweder, weil Gott nicht allmächtig ist (IA i), woraus sich das übrige ergibt, oder weil (IIB) Gnade existiert, und damit Gott.

    Diese Schlußfolgerung war mir ein großes Rätsel, weil die Vernunft uns leiten sollte, zur Wahrheit zu gelangen. Ich entschied mich für die einzige vernünftige Erprobung, die ich beobachten und einordnen konnte:

    Erprobung:
1. Das Bild meiner persönlichen Zukunft hervorbringen.
    2. Durch den freien Willen Handlungen erzeugen, welche das Bild verändern.
    3. Sehen, ob und wieviel das Bild verändert wird.

    Aber sosehr ich mich bemühte, ich konnte kein Bild hervorbringen, das sich auf meine eigene Zukunft bezog.

    In dieser Zeit meiner ersten Erfolge bewohnte ich ein möbliertes Zimmer in der Pension der Witwe Bailly in der Rue du Pont-aux-Choux. Die Herrin dieses bescheidenen, aber höchst respektablen Wohnsitzes war überzeugt, daß ich soeben als Kostgängerin aus dem entschieden zu strengen Ursulinenkloster geschieden war, nachdem ich eine kleine Erbschaft gemacht hatte. Die Brillanz ihrer Köchin und die vorzüglichen Federbetten sprachen für den Wechsel. Mein gesellschaftlicher Rang und eine Lesung, in der es um die Heirat ihrer älteren Tochter ging, hatten sie mit Ehrfurcht erfüllt. Seither galt ich ihr mehr als ihr bisheriger ranghöchster Kostgänger, ein Tabak schnupfender Abbé mit traurigen braunen Spanielaugen, der sein spärliches Einkommen mit Übersetzungen italienischer pornographischer Werke aufbesserte.
    Gegen ein geringes Aufgeld war mir gestattet, in ihrem kleinen Salon Besucher und Kundschaft zu empfangen. Ich tat dies hinter einem Wandschirm, den die zweite Tochter – die nicht zu verheiraten war – mit unbeholfener Hand bemalt hatte. Meine Hauswirtin strich einen weiteren kleinen Betrag ein, indem sie meine Anwesenheit der Polizei meldete. Mein Gewerbe wurde überprüft und für ehrlich befunden, zumindest insofern, als die Täuschung der Leichtgläubigen legal, wenn auch nicht löblich ist.
    Jahre später bekam ich den Bericht zu sehen: »Die Marquise ist eine Frau von unbestimmbarem Alter und gutem Verstande, welche den Törichten und Dummen gegen eine bescheidene Gebühr kluge Ratschläge erteilt. Sie verkauft weder Liebespulver, noch handelt sie mit unter dem Kelche erzeugten Substanzen oder gibt Empfehlungen für andere ungesetzliche Betätigungen. Sie ist nicht aus dieser Stadt. Harmlos.«
    Als könnte ich einen Gendarmen nicht mit geschlossenen Augen im Dunkeln erkennen, sogar ohne seinen Hut mit der weißen Feder. Dieser war als Kunde voll auf seine Kosten gekommen, auch wenn ich mich geweigert hatte, einen Hehler für die silbernen Löffel zu empfehlen, die er zu »versetzen« wünschte.
    Die vornehmeren Kunden besuchte ich in ihren Häusern; ich gab dem kleinen Küchenjungen der Witwe ein Trinkgeld, damit er mir, je nach Entfernung und Witterung, von einem Mietstand eine Sänfte oder Droschke herbeiholte. Nach kaum mehr als einer Woche war ich in drei unbedeutenden Salons gewesen und hatte zwei Damen mit untreuen Liebhabern sowie einen Mann auf der Suche nach einem vergrabenen Schatz an La Voisin weiterempfohlen. Ich war nach und nach imstande, die Vorzüge der Küchen etlicher feiner Häuser zu vergleichen. Ich fühlte mich ganz als stadtbekannte Frau.
    Aber der Winter war kalt, und nicht alle waren so erfolgreich wie ich. Krankheiten beschlichen die Schwachen, die Hungrigen und die Alten, was meinem Gewerbe abträglich war und zudem meine Gedanken mit unerfreulichen Bildern erfüllte. Doch der Anflug von Furcht beflügelte meinen Ehrgeiz. Die Straße wartete stets auf Versager. Manchmal machten

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