Die Hexe von Paris
hüpfte vor Freude. Ich war in meinem Element. »Ich brauche absolute Ruhe«, erklärte ich mit orakelhafter Stimme. »Die Kerzen müssen in gleichen Abständen um die Vase gruppiert werden, um das Bild nicht zu stören.« Ich trug ihnen eilends kleine Verrichtungen auf, hieß sie das Tischtuch glätten, den kleinen schwarzen Beutel mit meinen Utensilien holen. Mit der heiteren Zuversicht der Jugend wußte ich, daß ich gar kein Bild benötigte, um eine ausgezeichnete Lesung zu liefern. La Voisins Nachrichtennetz und die Unterweisung in der Wissenschaft der Physiognomie, die sie mir hatte zuteil werden lassen, genügten vollkommen. Sollte das Bild emporsteigen, so war dies eine Zugabe, um meine Kreation auszuschmücken.
Ich breitete ein blutrotes, mit kabbalistischen Mustern bedecktes Tuch unter die kugelförmige Vase. Ich verlangte »absolut reines« Wasser, um sie zu füllen, und die Köchin seihte das Wasser ehrfürchtig durch fünf Lagen Mull. Dann erst goß ich es durch einen verzierten Trichter, der wie massives Silber aussah, in das magische Gefäß. Ich brauchte lange, um den richtigen Rührstab zu wählen – den gläsernen? Das Drachenhaupt? Die Schlange? Gespannte Blicke ruhten auf mir, auf Geneviève, der Zukurzgekommenen, der Unerwünschten, der Vergessenen – auf Geneviève, der Häßlichen, von der die Leute einst mitleidig die Augen abwandten. Es wärmte mich durch und durch.
Ich sang, ich rührte, und dann spürte ich, eigenartig wie jedesmal, die unheimliche Entspannung, das seltsame Gefühl, als ob die Körpernerven schwänden, und ein Bild stieg empor. Der Comte im Kerker, die Beine in Fußschellen. Er war schon eine Weile dort, denn ihm war ein langer Bart gewachsen, und seine Kleider hingen ihm in Fetzen am Leibe. »Monsieur le Comte«, sagte ich, »Ihr befaßt Euch gegenwärtig mit Geschäften, welche die Aufmerksamkeit der Gesetzeshüter erregen werden. Ihr müßt allergrößte Vorsicht walten lassen, damit es nicht böse endet.« Früher hätte ich es ihm ganz unverblümt gesagt, doch dank La Voisins Unterweisungen wußte ich nun ein schlimmes Schicksal zu versüßen, um die Vergütung einzustreichen – und Aufträge für weitere Lesungen. Die Anwesenden atmeten alle gleichzeitig ein.
»Noch eine Lesung«, bat Chevalier de Vanens. »Ich muß es wissen.« Ich vollzog alles noch einmal, und wieder stieg mühelos ein Bild empor.
»Das ist sehr interessant, Monsieur de Vanens. Ihr seid hier zusammen mit Monsieur de Bachimont. Ihr seid beide sehr gut gekleidet. Ihr verkauft etwas – ah, es sieht wie ein Silberbarren aus – an einen Beamten der Krone. Hmm, jetzt unterzeichnet er ein Papier.«
»Es ist gelungen«, flüsterte die Comtesse und beugte sich weit vor, daß sie das Glas trübte.
»Erfolg, bei Gott, Erfolg. Die Münze«, sagte Chevalier de Vanens. Aha, sie waren tatsächlich Falschmünzer. Das Silber war vermutlich so echt wie das Zeug, aus dem mein Trichter gemacht war. Und meine persönliche Vermutung war, daß die ganze Bagage für ein hübsches Weilchen in den Kerker kommen würde. Das war das Problem mit den kleinen Bildern. Sie schimmerten nicht bequem etikettiert oder in chronologischer Reihenfolge aus dem Wasser hervor. Sie waren so nützlich wie Träume, kleine unzusammenhängende Bilder, die eine verschwommene Verbindung mit der Zukunft hatten. Es war wie der Blick durch ein Fenster in einen Raum, in dem Leute kamen und gingen und für den Beobachter unhörbar redeten. Was sagten sie? Was war zuvor geschehen? Was bedeutete es? Interpretation war alles. Die Leute meinen, es sei leicht, die Zukunft zu sehen, man erfährt alles, gewinnt Wetten, entfernt sich, bevor das Haus niederbrennt. Aber sie verstehen nicht einmal die Gegenwart. Warum sollten sie die Zukunft begreifen?
An diesem Abend saß ich allein bei einer Kerze und ordnete die neuesten Bilder entsprechend dem Datum des Sehens, den beteiligten Personen und der geschätzten Zeit der Erfüllung. Auch Visionen erfordern eine vernünftige Analyse.
Die Bilder ergeben ein interessantes Problem. Wie präzise beziehen sie sich auf die Zukunft? Entweder (I) sie repräsentieren die tatsächliche Zukunft, welche absolut und unveränderlich ist, oder (II) sie repräsentieren eine mutmaßliche Zukunft, sofern die Ereignisse sich so weiterentwickeln wie bisher. Trifft (I) zu, dann haben Calvins Anhänger recht, und alles ist vorherbestimmt, Gott hat die Zukunft der Welt von Anfang an festgelegt, und es gibt keinen freien
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